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«Wandzeitung» vom 21.6.2014:

Wenn Willy und Nicky telefoniert hätten:

1914 und die Folgen.

Die Flut von einschlägiger Fachliteratur zeigt es an: Wir steuern auf ein bedeutendes historisches Datum zu, den Ausbruch des Ersten Weltkriegs vor 100 Jahren. Viel zu reden gibt der 700seitige Schmöker des australischen Historikers Christopher Clarke mit dem Titel «The Sleepwalkers», Die Schlafwandler, in dem akribisch beschrieben wird, wie die politisch Verantwortlichen im Sommer 1914 in einen Krieg von nie gekannten Ausmassen taumelten, der die Welt für immer verändern sollte – nicht zum Guten.

Das Buch über die schlafwandelnden Kanzler, Minister und Herrscher der europäischen Staaten dürfte wieder einmal die Diskussion entfachen, wie weit Einzelpersonen den Lauf der Geschichte bestimmen können. Wäre es theoretisch möglich gewesen, dass die damals noch sehr einflussreichen europäischen Herrscherhäuser, die eng miteinander verwandt waren, das Desaster hätten verhindern können? Warum griffen die Cousins Willy und Nicky – so nannten sich Kaiser Wilhelm II. und Zar Nikolaus II. en famille – nicht zum Telefon und sagten: «Du hör mal, jetzt nehmen wir ein bisschen Dampf vom Kessel und reden vernünftig miteinander»?

Für die marxistische Geschichtsschreibung war immer klar: Auf Willy und Nicky kam es nicht wirklich an, sie waren lediglich die Marionetten der mächtigen wirtschaftlichen Interessen in ihren Ländern, die den Krieg unbedingt wollten, um an neue Rohstoffe und Absatzmärkte zu kommen. In den Augen dieser Historiker liess sich der Krieg nicht vermeiden, weil er von langer Hand geplant war und nur noch ein Ereignis fehlte, das die tödliche Falle von verschiedenen Bündnisverpflichtungen zuschnappen liess. Dieser Funke ins Pulverfass war die Ermordung des österreichischen Thronfolgers Franz Ferdinand in Sarajewo im Juni 1914.

Hatten die einzelnen Entscheidungsträger also keine Möglichkeit, im entscheidenden Moment Nein zu sagen? Es gibt spätere Beispiele, die dieser Auslegung widersprechen. Eine Persönlichkeit, die das Gegenteil beweist, ist gerade kürzlich gestorben: Nelson Mandela. Er hat mit seinem entschlossenen Eintreten für Versöhnung massgeblich dazu beigetragen, dass es nach dem Ende des Apartheid-Regimes in Südafrika nicht zu einem blutigen Rassenkrieg gekommen ist.

Zwei weitere Beispiele sind Charles de Gaulle und Konrad Adenauer. Sie legten nach dem noch schrecklicheren Zweiten Weltkrieg die Grundlage für ein neues Europa, von dem wir heute alle profitieren, auch wir Schweizer. Ihre Erkenntnis: In Europa darf es nie wieder Krieg geben, und das ist nur möglich, wenn sich die Erbfeinde Frankreich und Deutschland aussöhnen und in einer gemeinsamen europäischen Organisation zusammenarbeiten.

Das Ergebnis lässt sich sehen. Mit Ausnahme der Kriege auf dem Balkan hat Europa noch nie eine so lange Zeit des Friedens erlebt. Auch die Schweiz hat daher allen Grund, den Vorreitern des vereinigten Europas dankbar zu sein, denn ob wir neue Kriege in unserer Nachbarschaft auch wieder so heil überstehen würden wie den Ersten und Zweiten Weltkrieg, ist mehr als fraglich.

(Dieser historische Artikel ist erstmals am 9. Januar 14 in der «Schaffhauser AZ» erschienen.)


Bernhard Ott,
21.6.2014, 113. Jahrgang, Nr. 16.

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