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«Wandzeitung» vom 15.5.2016:

Vom Umgang der Russen mit ihren Kriegsopfern:

Unpolitische Trauer.

Seit vier Jahren gibt es in Russland die Aktion «Das unsterbliche Regiment», die von Fernsehjournalisten aus Tomsk erfunden wurde. Das Konzept ist denkbar einfach: Am «Siegestag», dem 9. Mai tragen die Leute Bilder ihrer Familienmitglieder mit sich, die im Zweiten Weltkrieg umgekommen sind. Dabei ist jegliche kommerzielle oder politische Werbung verboten. Mit jedem Jahr wurde die Aktion populärer, und 2015, zum 70. Jahrestag des Kriegsendes, wurde sie in rund 500 Städten im In- und Ausland abgehalten. Allein in Moskau sollen laut offiziellen Angaben 500 000 Personen teilgenommen haben.

Meine Gefühle gegenüber dem «unsterbliche Regiment» ist sehr zwiespältig. Einerseits positiv – ich verstehe das Bedürfnis vieler Russen ihre persönliche Trauer um ihre Nächsten auszudrücken. Das Grauen des Kriegs in diesem «verstümmelten» und traumatisierten Land ist noch immer zu spüren. Hinzu kommt, dass viele Russinnen und Russen erst in jüngster Zeit herausgefunden haben, was mit ihren Angehörigen passiert ist, weil viele Archive noch vor kurzem verschlossen waren und die Informationen erst dank Internet zugänglich gemacht wurden. Auf vielen Schlachtfeldern in Russland sind die Ausgrabungen der abertausenden Opfer noch heute im Gang – russische und deutsche Volontäre nehmen im Rahmen von gemeinsamen Lagern daran teil. Richtig: Wer seine Vergangenheit nicht kennt, hat keine Zukunft.

Andererseits sehe ich die marschierenden Trauermassen auch kritisch, denn sie symbolisieren für mich ebenso ein Volk, das um keinen Preis vorwärts schauen will und sich in der Vergangenheit vergräbt. Das liegt genau auf der Linie der offiziellen Kremlpolitik, welche jede Art von Sowjetnostalgie nach Kräften unterstützt und die alten Feindbilder heraufbeschwört. Ausserden ist es eine willkommene Gelegenheit, die stark gelichteten Reihen der Kriegsveteranen aufzufüllen, von denen die meisten aus Gesundheitsgründen im Rollstuhl oder in Bussen an die Parade gebracht werden müssen. Dabei erstaunt nicht, dass bereits von verschiedenen Parteien versucht wurde, die Aktion für ihre politischen Ziele zu vereinnahmen. Selbst Wladimir Putin reihte sich 2015 ins Regiment der Trauernden ein.

Bisher gelang es jedoch den Veranstaltern, den Missbrauch und Instrumentalisierung der Mächtigen durch die Mächtigen zu instrumentalisieren. Sie bestehen auf dem Recht jedes einzelnen auf persönliche Trauer – genau das unterstütze ich auch, denn Trauer muss gelebt werden, um mit ihr fertig zu werden.

Doch dazu gehört auch eine kritische Auseinandersetzung mit der eigenen Vergangenheit und mit den vielen unangenehmen Fragen, welche die Geschichte stellt. Zum Beispiel, was mit all jenen russischen Kriegsteilnehmern passierte, welche die deutsche Gefangenschaft überlebten und nach ihrer Rückkehr direkt in den stalinistischen Lagern verschwanden. Auch sie marschieren im unsterblichen Regiment mit – ob sichtbar oder unsichtbar.


Eugen von Arb,
15.5.2016, 115. Jahrgang, Nr. 136.

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