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«Wandzeitung» vom 15.7.2016:

Was man sich in Ost und West übereinander erzählt:

Schmeisst die alten Parolen weg,
sie haben nie gestimmt!

Als ich einen russischen Fernsehbericht über die Morde an Schwarzen und Weissen in den USA sah, in dem das Thema genüsslich breitgetreten wurde, musste ich daran denken, wie sehr man in Ost und West wieder zum Jargon des Kalten Kriegs zurückgekehrt ist. Der Rassismus in den USA und anderen westlichen Ländern wurde früher jeweils den Kritikern der Menschenrechtsverletzungen in der Sowjetunion entgegengehalten. Das Absurde an der Sache war, dass im Grunde genommen beides existierte und immer noch existiert.

Aber nach zwei Jahrzehnten, in denen sich Ost und West bemühten, einander aus einer menschlicheren Perspektive zu betrachten, sind die alten Hetzparolen wieder da: Amerika ist wieder das Land der Freiheit, Russland der Hort der Unterdrückung. Dabei haben auf beiden Seiten stets parallele Wahrheiten existiert. Zum Beispiel tingelt meine Schwester gerade mit ihrer Familie durch die amerikanischen Naturreservate und findet dieses Land zweifellos fantastisch und ziemlich frei. Ein US-Bürger mit dunkler Hautfarbe hingegen, der im Getto aufgewachsen ist und deswegen schlechte Chancen in der amerikanischen Gesellschaft hat, empfindet diese vermutlich als Gefängnis.

An diese parallele Wahrheiten musste ich beim Treffen mit meinem Freund Sebastian Köpcke hier in Petersburg denken. Dabei kamen wir auf unsere Herkunft zu sprechen – ich wuchs im Schweizer Dorf auf, er in Ostberlin, ideologisch gesehen, trennte uns eine Mauer. Doch sie hinderte uns in keinster Weise daran, einander blendend zu verstehen, obschon dies unsere erste Begegnung war.

Seit zwei Jahrzehnten macht Sebastian Ausstellungen und musste dabei immer wieder die Mauer in den Köpfen durchstossen. Er schildert mir, wie bei einer seiner ersten Ausstellung über DDR-Werbegrafik die Besucher aus dem Westen über Buntheit und Fantasie der DDR-Gestaltung staunten, die jener im Westen in Nichts nachstand. Grau, öd und eintönig – so hatte der Osten in ihren Augen auszusehen.

Jetzt hat Sebastian die bunte Spielzeugwelt der Sowjetunion entdeckt – sie ist viel lustiger und liebenswerter als jene durch Mattel und Disney gleichgeschalteten westlichen Kinderstuben. Halt – «gleichgeschaltet» – so hat doch der Osten zu sein! Dabei war er es ja nie! Je mehr sich Sebastian in sein Projekt vertieft, desto mehr faszinierende Menschen und Geschichten findet er. Dabei hat er eine Kollegin getroffen, die sich in Russland mit demselben Thema beschäftigt und die Sebastian den Designerinnen und Designern der bunten Plastiktiere vorgestellt hat.

Eine prächtige Vielfalt hat sich vor seinen Augen eröffnet. Sie erinnert uns daran, dass alles gar nicht so «einfach» ist, sondern viel komplizierter, aber dafür auch interessanter. Es ist jene Vielfalt, die sich nur jenen zeigt, die bereit sind, ein Land durch seine Menschen zu beurteilen und nicht durch griffige Vorurteile. Darum schmeisst die alten Parolen weg – sie haben nie gestimmt!

 

 


Eugen von Arb,
15.7.2016, 115. Jahrgang, Nr. 197.

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14.9.2016, 22:43 Uhr.

Veronika Herzig schrieb:

Schöne Erfahrungen, schöner Text, danke.


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