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«Wandzeitung» vom 15.12.2016:

Wer’s glaubt, wer’s glaubt:

Gelehrter Aberglaube in Russland.

Worte können zaubern, herrschen, manipulieren. Das beweisen Dichter, Denker und Diktatoren seit Jahrtausenden. Aber jetzt soll die Macht der Worte jedem zugänglich sein – dank eines russischen Computerprogramms. Von dieser «rethorischen Wunderwaffe» erfuhr ich am Vortrag einer Psychologin, zu dem mich eine Kollegin eingeladen hatte.

Zu den Hauptaufgaben der Wissenschaft in der Sowjetunion hatte neben der Ausrottung der Religion durch die Atheismus-Theorie, auch die Beseitigung des tief in der russischen Seele verwurzelten Aberglaubens. Doch stattdessen kam es offenbar zu einer Verschmelzung dieser Kräfte, und in manchen Fällen schien sogar der Aberglaube die Oberhand gewonnen zu haben.

Das wurde mir an dieser Veranstaltung zum Thema der psychologischen Sprachanalyse klar, welche von der Professorin einer sibirischen Universität geleitet wurde, die mir aber mehr wie eine Schulstunde in Hogwarts vorkam. Zuerst erklärte sie, wie anhand von Umfragen und linguistischer Methoden, der psychologische Charakter der einzelnen Elemente der Sprache analysiert und die Resultate in einem Computerprogramm zusammengefasst wurden. Die Software kann in exakten Zahlen Wert und Wirkung von Worten und Sätzen festlegen und sie als eine Art Farbaura darstellen.

Während die technischen Ausführungen noch glaubwürdig wirkten, geriet die Veranstaltung danach immer mehr zur Märchenstunde. Die charismatische Sprachmagierin in grünem Pullover und glitzernder Steinkette erzählte darin ihre eigene – unglaubliche – Geschichte.

Mit unwiderlegbarem Selbstvertrauen schilderte sie, wie ihre Methode die Entwicklung unbestechlicher Lügendetektoren ermöglichte und hoffnungslosen Politikern zum Wahlsieg verhalf.

Ihr Programm soll die vereinte Wirkung von 300 PR-Spezialisten übertroffen haben. Ein einziger von ihr umgeschriebener Artikel auf der Titelseite soll die Auflage einer Zeitung um das Achtfache erhöht haben. Schamanen aus Jakutien liessen sich von ihr beraten, und ebenso begehrt war sie beim russischen Geheimdienst, vor dem sie sich dann allerdings jahrelang verstecken musste. Schliesslich erzählte sie, wie sie selbst einer jungen Frau zu einem Ehemann verhalf, in dem sie sie verhexte, oder wie sie ihren Kollegen vor dem Tod in einer Flugzeugkatastrophe bewahrte. Plötzlich ging die Rede von übersinnlichen Energien, die eindeutig in das Reich der Zauberei gehören.

Genie oder Scharlatan? Wahrheit oder Lüge? Das war nicht so wichtig für mich. Nur eines wurde mir wieder einmal klar: Das ist Russland! Nie hätte die Schamanen-Professorin im Westen für diesen wissenschaftlich belegten Aberglauben einen akademischen Titel erhalten. Wieder einmal bestätigten sich die Worte des Dichters Fjodor Tjutschew, der sagte, man könne Russland nicht verstehen – man könne nur daran glauben.

Stolz bemerkte die Referentin zum Schluss, man habe sie kürzlich gebeten, russlandfreundlichen Politikern in Europa zur Wahl zu verhelfen – ein Projekt, das sie sehr sehr interessiere. Den westlichen Geheimdiensten sei deshalb geraten, statt Computer-Hacker zu jagen, schleunigst ein Heer von Schamanen auszubilden!


Eugen von Arb,
15.12.2016, 115. Jahrgang, Nr. 350.

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Standpunkte:

28.12.2016, 18:19 Uhr.

Paul Egger schrieb:

Köstlich und haarsträubend zugleich! Da hat die Dame aber viel «Reklame in eigener Sache» gemacht. «Psychologische Sprachanalyse» – da musste ich an Graphologie denken, von welcher behauptet und geglaubt wurde, dass mit dieser Stärken, Schwächen und der Charakter und was sonst noch alles aus der Handschrift einer Person herausgelesen werden kann. Heute ist es bewiesen, dass Graphologische Gutachten den Wert von Kaffeesatzlesen haben. Leider wird die wissenschaftliche Forschung im Westen auch nicht ganz frei von Humbug. So gibt es an der Uni Bern und an der Uni ZH Institute für sogenannte Alternativmedizin. Nun warte ich noch auf Studienfächer wie Alternativ-Physik, Alternativ-Mathematik und Alternativ-Granmatik. In Alternativ-Physik dürfen geglaubte Theorien von bisher unbekannten und unerklärlichen Teilchen mit wundersamen Wirkungen vertreten werden. Die «normale Physik» wird in die Pflicht gestellt, die Nichtexistenz dieser Wunderteilchen zu beweisen. In der Alternativ-Mathematik werden Theorien vertreten, dass 2+2=5 ist und zwar für sehr grosse Werte von 2. Von der «normalen Mathematik» wird gefordert Modelle zu liefern, in welchen unterschiedlich grosse Werte von 2 möglich sind. In der Alternativ-Grammatik kann jeder Legastheniker seine Schreibschwäche zur neuen Rechtschreibung deklariern.
Alles frei nach dem homöopathischen Prinzip: «Je grösser die Verdünnung, desto stärker die Wirkung», soll für den Rest der Wissenschaft gelten: «Je weniger jemand von etwas eine Ahnung hat, je weniger er darüber gelernt hat, desto grösser ist sein Wissen darüber.»


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