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«Wandzeitung» vom 25.11.2016:

EIN SATZ:

Beinfreiheit.

Viele Steine, müde Beine, Aussicht keine, Heinrich Heine. Eintrag des Dichters ins Gipfelbuch des Brockens.

Die Steine der amerikanischen Prärie stöhnen in der Dürre des Trumpismus und Unlucky Luke reitet müde einer stechenden Sonne entgegen. Der deutsche Wald steht schwarz-rot-gold und schweiget. Was soll er zu weiteren vier Jahren Sauertopf mit Ponykopf sagen? Dass Erzengel über das Land kommen, Wagenknechte oder gar Frauken und Trompetren? Oder sich wie Wolf Biermann damit selbsttäuschen, dass Angela Merkel die einzige deutsche Sozialdemokratin sei? Wobei das auch ohne Selbsttäuschung angesichts des gehobenen Staatsinterventionismus, den sie versprüht, nicht zwingend von Vorteil wäre. Aussicht keine.

Wie luftig und leicht ist da doch unsere hiesige kleine Krise. Wir müssen bloss die Kollateralschäden des Volkszorns, der sich in Abstimmungsresultaten äussert, begrenzen. Auch wenn wir es schaffen, sogar daraus eine Steigerung des Bruttoinlandprodukts zu machen: Aussicht keine.

Ein Lösungsansatz wäre, nebst stillen Wahlen auch stille Abstimmungen einzuführen. Viele Behörden wurden diesen Herbst klamm und heimlich bestimmt, zwar unter ordnungsgemässer Publikation. Doch was nicht in 20-Minuten steht, wird nicht wahrgenommen. Auch dort hätten sie viele für die Mannschaftsaufstellung der Eishockey-Cupspiele gehalten. Und die Frist zur Nomination anderer Schlittschuhläufer verpasst. Die Publikation von Sachvorlagen würde zweifelsohne in der Flut unwichtiger Probleme untergehen und das von den Behörden Vorgeschlagene widerspruchslos zu Verfassung und Gesetz erhoben. Aussicht je nach Standpunkt.

Das wahre, gewaltige Problem des Herbsts liegt selbstredend ganz woanders: bei der Beinfreiheit. Damit meine ich nicht das gleichnamige Menschenrecht. Auch wenn es um Menschenrechte schlecht bestellt ist. Werden Videoüberwachungen für den Betrugsnachweis, dass der grad noch beim Vertrauensarzt Humpelnde an der nächsten Strassenecke die Krücken von sich wirft, vom Gerichtshof in Strassburg verboten, so schafft man flugs eine gesetzliche Grundlage für die Videoüberwachung an allen Ecken. Bestenfalls wird darüber diskutiert, ob die Kameras sich erst einschalten, wenn Krücken in der Nähe sind. Oder die Aufnahmen nur von eigens zertifizierten Personen mit Fachausweis ausgewertet werden dürfen. Aussicht – ausser durch die Kamera – keine.

Die Beinfreiheit, die ich meine, ist eine ganz andere. Die Gebeine junger Männer in Halbschuhen, ohne dass sie gleichzeitig Socken tragen, und dies, obschon ihre Unterschenkel vor Frost erstarren. Die Gesundheitsfürsorge ist nicht mein Anliegen. Dennoch muss ich für Grenzen dieser Beinfreiheit plädieren. Sie muss an der Beeinträchtigung des Geschmacks des Betrachters enden. Denn nur eine Minderheit dieser teils ins Froschschenkelhafte spielenden, entblössten Fleischteile vermag den ästhetischen Ansprüchen kultivierter Menschen zu genügen. Spätestens in Kombination mit Flip-Flops wird das nächsten Sommer auch Boulevardthema sein. Aber bis dahin haben wir uns möglicherweise daran – oder uns die Kultiviertheit ab- – gewöhnt. Aussicht schon, aber trübe.


Adrian Ramsauer,
25.11.2016, 115. Jahrgang, Nr. 330.

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