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«Wandzeitung» vom 8.4.2016:

Bauernkinder sind wieder interessant:

Du huärä Puur!

In unserer Klasse gab es vier Bauernkinder. Besonders der eine stank immer stark nach Mist und wurde deswegen gehänselt. Mit «du huärä Puur!» Konnte man aber auch Nicht-Bauern beleidigen. Ähnlich wie «schwul» oder «Türke», war «Puur» während meiner Primarschulzeit in einem idyllischen Bergdorf im Glarner Hinterland zu einem Schimpfwort mutiert. Dass Homosexuelle und Ausländer für Schimpfwörter herhalten müssen, ist ein bekanntes Phänomen. Das Fremde und Unbekannte wird verteufelt und mit negativen Eigenschaften assoziert. Doch Bauern sind nicht fremd, sondern gehören zu unserem kulturellen Erbe. Unsere Vorfahren waren grösstenteils Bauern. Kühe, Ställe und Traktoren prägen das Dorfbild auch heute noch. Woher also die Feindseligkeit? Meine Theorie ist, dass wir als Dörfler einen Komplex haben, unserer ländlichen Herkunft wegen. Das ultimative Symbol dieser Herkunft ist natürlich der rückwärtsgewandte, stinkende und ahnungslose Bauer. Deswegen streben wir schon als Kinder nach dem Neuen, Sauberen uud Fortschrittlichen. Ich erinnere mich auch daran, dass ich als Kind lieber in einem Neubau gewohnt hätte, statt in dem von meinem Urgrossvater erbaute Holzhaus, das in unzähligen Föhnnächten ächzte.

Die Bauernkinder waren uninteressant und uncool. Doch jetzt muss ich an sie denken. An die unzähligen Nachmittage, die sie heuend verbrachten, während wir in die Badi gingen. An die vielen Morgenstunden, während denen sie im Stall halfen. Noch bevor sie, den unverkennbaren Geruch nach sich ziehend, in die Schule kamen. An die vielen Sommerferien, die sie z’Alp waren. Jetzt denke ich an sie, denn jetzt stinke ich selbst nach Mist und Schweiss. Ich befinde mich auf einem gottverlassenen Bauernhof im Norden der Mongolei nahe der sibirischen Grenze. Es gibt etwa 150 Kühe, Rinder und Kälber, 100 Ziegen und Schafe und etwa 100 Pferde, die jedoch wild in der Steppe leben und nur zurückgetrieben werden, wenn sie verkauft, geimpft, oder beritten werden. Es gibt kein fliessendes Wasser und folglich auch keine Dusche. Wir müssen das Wasser für die Küche und für die Tiere täglich während zwei Stunden aus einem Brunnen pumpen. Unsere Tage bestehen aus ausmisten, Tiere füttern und wieder ausmisten und Tiere tränken und Tiere hirten. Je länger ich hier bin – es sind erst 10 Tage, doch es kommt mir vor wie eine Ewigkeit – desto eher fühle ich mich selbst wie ein Tier. Ich denke wenig und was in der Welt geschieht, interessiert mich nicht. Schlafen, arbeiten, essen, arbeiten, essen, ausruhen, arbeiten, essen, schlafen. Muh. Määäh.

Die Bauernkinder sind wieder interessant. Und das alte Holzhaus würde man für kein Geld der Welt gegen einen Neubau eintauschen.


Anita Blumer,
8.4.2016, 115. Jahrgang, Nr. 99.

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