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«Wandzeitung» vom 8.6.2016:

Zurück in Europa:

«Ich bin eine Rassistin.»

Als wir in Tallinn aus dem Zug stiegen, wussten wir, dass wir zurück in Europa waren. Wir wussten es, weil die Strassen in bestem Zustand waren und die Autos neu und sauber, weil es Busfahrpläne gab und mittelalterliche Kirchen. Doch etwas fehlte. Alle Menschen waren nämlich weiss, genau wie wir. Dieses Bild änderte sich auch in Lettland, Litauen und Polen nicht. Zwar gibt es in den baltischen Staaten viele Russen, die nach dem Ende des zweiten Weltkrieges dort angesiedelt wurden, was mittlerweile für einige Spannungen sorgt. Doch davon abgesehen gibt es kaum Migranten oder Flüchtlinge. Ein estnischer Lastwagenfahrer, den wir auf dem Weg nach Polen kennenlernten, sagte: «Wir Esten sind mehrheitlich Rassisten.» Diese Selbstdeklaration brachte uns erst einmal zum Lachen. Denn wenn jemand von sich selbst sagt, er sei ein Rassist, dann klingt das ironisch. Wie wenn jemand sagt, er sei ein Arschloch. Bei uns in der Schweiz gibt es kaum selbsterklärte Rassisten dafür umso mehr «Ich habe nichts gegen Ausländer, aber…» – Menschen. Das sind Menschen, die rassistisch empfinden, das aber nicht wissen oder nicht sagen wollen. Nun bin ich mir nicht sicher, was schlimmer ist. Vielleicht kommt es aufs Gleiche an. Später in Polen lernten wir noch mehr Rassisten kennen. Eine arbeitende Mutter aus einer Kleinstadt sagte, sie möge keine Muslime. Auf die Frage hin, ob sie überhaupt Muslime kenne, antwortete sie, nein, sie wolle auch keine kennenlernen. Dann meinte aber ihre Freundin, dass ein gemeinsamer Bekannter Muslim sei. Das schockierte die Frau nachhaltig. Sie wusste nicht, was sie davon halten sollte, dass dieser Bekannte tatsächlich ein Anhänger des verteufelten Glaubens sei. Sie fühlte sich offensichtlich hintergangen. Sie erzählte, ihr Vater sei schon Rassist gewesen und früher habe sie das immer für Schwachsinn gehalten, doch jetzt würden ihre Vorurteile über Muslime laufend bestätigt und deswegen sei sie wohl auch zu einer Rassistin geworden. Muslime seien einfach gefährlich und wollten alle Menschen zu ihrem Glauben zwingen, deswegen sei sie gegen die Aufnahme von Flüchtlingen aus Syrien. Einige Polen begründen ihre rechtskonservative Haltung historisch. Polen sei ein junger Staat, der selbst bis vor kurzem Krieg und Leid ausgesetzt gewesen war. Ganz im Gegensatz zur Schweiz sind in Polen Wohlstand und politische Unabhängigkeit relativ neu. Vor diesem Hintergrund erscheint es logisch, dass sich die Polen vor neuerlichen Unruhen fürchten. Andererseits denken viele Menschen in der erfolgs- und friedensverwöhnten Schweiz ähnlich. Oft sind es gerade reiche Gemeinden, wie Oberwil-Lieli, welche sich gegen die Aufnahme von Flüchtlingen stellen. Offenbar ist Rassismus ein Phänomen, das quer durch gesellschaftliche, wirtschaftliche und kulturelle Schichten existiert. Bleibt die Frage, was es denn nun ist, das den Menschen dazu bringt, seinen Nächsten aufgrund seiner Nationalität, Hautfarbe oder Religion abzulehnen. Ist das eine natürliche Veranlagung? Oder etwas, was einem im Laufe des Lebens untergejubelt wird.

 


Anita Blumer,
8.6.2016, 115. Jahrgang, Nr. 160.

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