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«Wandzeitung» vom 8.7.2016:

Autostopp:

Wir sind Parasiten.

Letzte Woche bin ich mit meiner Schwester per Autostopp an den Comersee in die Ferien gefahren. Die Fahrt dauerte sieben Stunden, fünf Fahrer und zwei Autobahnraststätten. «Wir sind wie Parasiten», sagte meine Schwester und ich konnte das nicht ganz von der Hand weisen. Immerhin profitierten wir davon, dass viele Menschen alleine in geräumigen Autos unterwegs waren, während wir kein Auto besassen und uns damit sowohl die Kosten für ein Auto, als auch die Kosten für das Benzin sparten. Doch im Unterschied zu echten Parasiten fragten wir bloss mit hochgestrecktem Daumen nach einer Mitfahrgelegenheit und überliessen es dem Wirten, ob er uns mitnehmen wollte oder nicht.

Auf Kosten anderer zu leben ist für uns Eidgenossen eine besonders schlimme Vorstellung. Jeder hier sorgt dem Glauben nach für sich selbst und ist niemandem etwas schuldig. Ein paar wenige hängen am Tropf des Staates. Zu Ihnen will man auf keinen Fall gehören. Nicht zuletzt weil diese unter dem Genrealverdacht stehen, faul oder unfähig zu sein. Und Faulheit ist hierzulande eine besonders schwerwiegende Sünde. Sogar in unserer Freizeit treiben wir uns zu immer neuen Höchstleistungen an, klettern auf Berge, fahren mit dem Velo über Pässe, erobern mit dem Gleitschirm die Lüfte. Nichts steht uns ferner, als einfach auf der faulen Haut zu liegen. Denn wir wissen, dass auf die Arbeit der Lohn folgt und deshalb leben wir auch sehr komfortabel von unserem Fleiss, unserer viel zitierten Pünktlichkeit und unserer Effizienz. Soweit hat das auch seine Richtigkeit, nur ist es eben nicht so, dass wir für uns selbst sorgen und niemandem etwas schuldig sind. Ganz im Gegenteil. Wir sind von der Arbeitsleistung unzähliger Menschen abhängig, die teilweise unter fairen, teilweise unter extrem unfairen und zuweilen sogar lebensbedrohlichen Bedingungen arbeiten, damit wir im Wohlstand leben können. Wir sind von natürlichen Ressourcen abhängig, die durch unseren Konsum jedoch zunehmend und in absehbarer Zeit endgültig vernichtet werden. Wenn wir ein Produkt kaufen, bezahlen wir in der Regel nur einen Bruchteil der tatsächlichen Kosten. Nehmen wir ein Baumwoll-Shirt aus dem H&M für 14.90 CHF. In diesem Preis ist die Arbeit des Baumwollbauern enthalten. Sowie das Wasser, das für den Anbau der Baumwolle gebraucht wird (in Indien sind es pro Kilogramm Baumwolle 23 000 Liter). Ausserdem der Boden, der durch den Einsatz von Düngermittel und Pestiziden verschmutzt wird. Und das Fluss- und Seewasser, das durch das Färben oder Bleichen des T-Shirts verunreinigt wird. Dann die Arbeit der Fabrikarbeiterin in Bangladesh oder China, die das Shirt webt und zusammennäht. Zuletzt der Schiffstransport in die Schweiz und die Arbeit der Verkäuferin, die uns das Kleidungsstück verkauft.

Wir denken, wir seien frei und unabhängig, weil wir unser eigenes Geld haben und damit Dinge kaufen können. In Wirklichkeit sind wir alle voneinander und von der Gnade der Natur abhängig. Wenn ich am Strassenrand stehe und hoffe, dass jemand anhält, dann spüre ich diese Abhängigkeit eher, als wenn ich ein Zugbillet kaufe. Das ist es unter anderem, was mir am Stöppeln so gefällt.


Anita Blumer,
8.7.2016, 115. Jahrgang, Nr. 190.

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