Logo Wandzeitung
Herausgeber: Guido Blumer & Roger Rutz.
Archiv:   Blog:   Echo:   Home:   Kontakt:   Leitbild:   Partner:   Sponsoren:   Twitter

«Wandzeitung» vom 8.8.2016:

Sommerferien auf der Autobahn:

«Es gibt keine Regeln.»

Um die Hochzeit eines befreundeten Paares mit zu feiern, sind mein Freund und ich von Zürich nach Lettland getrampt und zurück. Die Autobahnen Osteuropas sind ein Universum für sich. Familien reisen in vollgestopften Autos in die Berge oder an den Strand, LKW rollen träge und in endlosen Schlangen vor sich hin, unzählige Wohnmobile tummeln sich an den Raststätten. Asphalt, Motorengeräusche, Stau, Kaffee aus dem Pappbecher und Zigarette an der Tankstelle, verwirrte Navigationsgeräte. Ankunft in Madona, Lettland nach vier Tagen. Hochzeitswalzer im Schloss, Blumenbuketts, Prosecco, Abendessen am See mit viel Wein und Cognac, Rock’n’Roll, besoffener Schwiegervater fällt auf die Bühne. Drei Tage passioniertes und fachmännisches Feiern. Dann wendeten wir uns wieder der Strasse zu.

Wir purzelten gerade aus einem Auto und noch bevor wir uns an der Tankstelle kurz vor Kaunas, Litauen, umsehen konnten, sprach uns Avni an. Rauchend in der Abendsonne, die Kühlerhaube seines alten silbrigen VW Passat offen. Er fahre in den Kosovo und könne uns bis Warschau mitnehmen. Er sprach englisch und finnisch, denn er lebt seit 25 Jahren in Finnland mit seiner Familie. Als junger Mann wollte er nur ein paar Monate nach Helsinki, um zu arbeiten, doch dann brach in der Heimat der Krieg aus und es gab für ihn keinen Grund zurückzukehren.

Er hat zwei Kinder, seine Tochter ist 13 und sein Sohn 6. Er wolle nur, dass seine Kinder studierten, erzählte er. Ansonsten könnten sie machen, was sie wollten. Arbeiten könne jeder, sage er seinen Kindern immer. Arbeiten, so wie er, als Buschauffeur, das sei einfach. Aber jemand werden, das sei schwieriger. Dafür müsse man zur Schule und sich anstrengen. Avni rauchend am Steuer, die Augen zusammenkneifend. Das sei das letzte Mal, dass er diese Strecke fahre. Es sei einfach zu anstrengend. Als wir uns nachts um zwei Uhr an einer Tankstelle in Warschau verabschiedeten, konnten wir uns einer gewissen Rührung nicht erwehren. Die sechs Stunden, die wir zusammen im Auto verbrachten, hatten uns, wenn auch nur für kurze Zeit, zu einer Schicksalsgemeinschaft gemacht.

Der Pole, der uns in seinem Lastwagen über die Bundesgrenze brachte, wollte, dass man die Merkel ins Gefängnis sperre. Hier in Polen hätten sie eben keine Migranten und drum auch keine Probleme. «Aber ihr Polen migriert doch auch in andere Länder», wendete ich ein. «Ja, aber wir sind keine Terroristen», entgegnete der junge Lastwagenfahrer. Damit hatte sich das Thema erledigt. Auch mangels gemeinsamer Sprachkenntnisse.

„Ich kann nicht mehr“, meinte ein stattlicher türkischstämmiger Berner, den wir an einer Raststätte in Deutschland trafen. Er komme gerade aus den Ferien in der Türkei und was er auf den Strassen bis hier her gesehen habe, habe ihn fertig gemacht. So viele Unfälle. Eine ganze Familie in wenigen Sekunden ausgelöscht. „Die Türkei ist mein Land, aber ich kann dort nicht fahren. Es gibt keine Regeln“, jammerte er. Er war ganz bleich im Gesicht.


Anita Blumer,
8.8.2016, 115. Jahrgang, Nr. 221.

Artikel als PDF downloaden

Zu diesem Artikel wurde noch kein Standpunkt abgegeben.

 

Veröffentlichen Sie als erste Person Ihren

Standpunkt*:

Name:

*Wir freuen uns sehr über Ihre Gedanken zum Text des Tages, bitten Sie jedoch, keine Personen zu verunglimpfen und deren Haltung mit Respekt zu begegnen. Danke schön. Verstösse gegen unser Leitbild werden indes nicht verbreitet.

 

Winterthurs kleinste Zeitung der Schweiz.