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«Wandzeitung» vom 4.12.2016:

6:45Uhr: Warten auf die S12.

Gelungene PR-Aktion.

Es ist schon ein paar Tage her. Wie jeden Morgen stand ich um 6:45 auf Perron drei, wartete auf die S12. Um diese Zeit herrscht auf dem Perron ein Gedränge, es «ameiselet», denn praktisch alle 10 Minuten fährt ein Zug nach Zürich, jeder fasst gute 1000 Sitzplätze. Eine Uniformierte der SBB mit einem Bauchladen voller frischer Gipfeli strahlte mich trotz der frühen Morgenstunde an und offerierte mir ein fein duftendes und knuspriges Gebäckstück. Was für eine fröhliche Überraschung! Sie mache Werbung für alternative Züge nach Zürich, die S23, S8 oder S11, in denen es jeweils zu dieser Zeit noch genügend Sitzplätze habe, fügte sie an. Der Gipfel war mir willkommen, ihren Wunsch erfüllen konnte ich nicht, ich gehöre zu den wenigen Pendlerinnen, die über Zürich hinaus fahren. Den knusprigen Buttergipfel kauend betrachtete ich meine Mitwartenden und die Gipfeli-Frau und verfiel ins Sinnieren.

Tausende von Menschen pendeln täglich nach Zürich. Dicht gedrängt stehen sie am Perron, jede und jeder in der Hoffnung, die Türe möge möglichst direkt vor ihm oder ihr zu stehen kommen. Entleert sich zusätzlich der Tösstaler oder der Aadorfer aufs Perron, wird die Wartesituation prekär. Will ich nicht fälschlicherweise in die S23 gesogen werden, muss ich mich auf die äussere Seite des Perrons schlängeln und warten. Dies ist dann allerdings beim Einfahren der S12 ein Vorteil, weil ich quer über den Perron mit etwas Zielsicherheit eine Wagentür ansteuern kann und mir so wiederum meinen Sitzplatz sichere. Und das jeden Morgen. Und jetzt die Gipfeli, mit Umsteigeangebot. Zusätzlich fällt mein Blick auf extra für Winti gedruckte Plakaten für diese Ersatzzüge. Zusätzlich plätschern Lautsprecheransagen morgens über die Köpfe und weisen auf diese Ersatzzüge hin. Info total. Mit Genusseffekt. Ein richtig gutes PR-Paket.

Und doch verstehe ich es nicht ganz: Sind wir zu stumpf, um bessere Verbindungen und den garantierten Sitzplatz selber herauszufinden? Können wir nicht mehr Fahrplan lesen? Wollen wir keinen Umweg unter der Unterführung hindurch, weil es noch keinen Lift hat? Oder sind wir so in uns selbst gefangen, mit den Stöpseln in den Ohren und dem Blick auf dem Handybildschirm, dass es äussere Reize braucht, um uns zum Denken und Handeln, zu einer Verhaltensänderung zu bewegen? Sind wir Menschen halt doch vor allem dumpfe Herdentiere?

So abwegig ist das wohl gar nicht. Wir müssen via Dauerwerbung beeinflussbar sein, sonst würde sich das nicht rechnen. Je mehr Inserate-Infomüll, desto Herdentrieb, so jedenfalls sehe ich das auch nach Wahlen und Abstimmungen. Je mehr Geld, umso mehr Pseudo-Infomüll in Form von Gratiszeitungen, Publireportagen und mehr, denn auf Wahrheitsgehalt überprüfen kann ich das Wenigste und Lügen ist in unserer Gesellschaft grundsätzlich nicht verboten. Nur ganz selten gewinnt der sogenannte gesunde Menschenverstand. Genau daran arbeite ich, wenn ich über Zürich hinaus in die Schule fahre. Darum auch macht es Sinn, nicht bei der Bildung zu sparen, sondern darein zu investieren. So gesehen braucht es in den USA, aber auch bei uns, vor allem eine Bildungsoffensive.


Marlies Bänziger,
4.12.2016, 115. Jahrgang, Nr. 339.

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