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«Wandzeitung» vom 11.1.2016:

«Utopia» wird 500 Jahre alt:

Angst vor einer Welt ohne Grenzen?

Vom Theologen Paul Tillich stammt der schöne Satz: «Mensch sein heisst Utopien haben.» Thornton Wilder fand, es sei heutzutage «kaum etwas realistischer als Utopien». Und der Filmkomiker Jerry Lewis sagte einmal: «Manches, das am Morgen noch Utopie gewesen ist, ist zu Mittag bereits Science-Fiction und am Abend Wirklichkeit.»

1516 schenkte Thomas Morus mit seinem «Utopia» der Welt eine neue Weise der Zukunftsaneignung, die mit dem Aberglauben an die Ankunft irgendeines Himmelreiches brach. Die politische Utopie feiert in diesem noch jungen Jahr ihren 500. Geburtstag.

Im Folgenden, mein Beitrag zu dieser Geburtstagsfeier: Lange Zeit galt als unumstössliche Wahrheit, dass die Erde eine Scheibe ist. Noch wesentlich zäher als der Aberglaube an die gottgegebene Absturzgefahr in Richtung Rand hält sich die Anbetung der menschengemachten Parzellierung des eben doch runden Planeten Erde. Ausweis weltweiter Huldigung der Göttin Grenze sind die Hausaltäre ihr zu Ehren: Latten-, Maschen- oder Stacheldrahtzaun. Das Anziehende des Kultes ist das Ausschliessende. Zäune wie Grenzen halten fern – Rasenbetreter, Geflüchtete, alles, was in der umhegten Komfortzone nicht willkommen ist. Und tritt schliesslich doch ein, wer und was draussen bleiben soll, rufen die Gläubigen ihre heilsbringende Abhalterin an, sie möge höher, dichter, furchterregender wachsen.

Doch die Erlösung bleibt aus. Muss ausbleiben, denn die Versprechungen der Demarkationspriester sind leer. Der Wohlstand im Kapitalismus? Brüchig. Freiheit? Mit Sicherheit bedroht. Sicherheit? Eine Illusion, solange sich Wohlstand und Freiheit diesseits aus Ausbeutung und Unterdrückung jenseits des Zauns speisen. Und für die Folgen des Klimawandels sind rote Linien auf Landkarten nicht mehr als ein schlechter Witz.

Aber eine Welt ohne Grenzen und Staaten ist doch gar nicht möglich!

Wieso nicht? Wie sähe eine Welt aus, in der alle für alle und alles verantwortlich sind, und nicht nur fürs Pflegen des eigenen Vorgartens? Wenn das eigene Wohl von dem der anderen abhinge und nicht von deren Leid? Wenn alle genügend vom Notwendigen abbekommen, und nicht wenige viel mehr haben als sie brauchen, dafür viele weniger als sie benötigen?

Dass sich die Vorstellung, die Erde sei eine Scheibe, schneller verabschiedet hat als der Glaube an Grenzen, ist nachvollziehbar. Vom Weltenrand ist schliesslich nie jemand heruntergefallen. Das Prinzip der Grenzen jedoch funktioniert bis heute – wenn auch nicht ohne Komplikationen – so doch bisher ziemlich stabil. Bisher. Denn wie damals das Scheibenerdemodell im Museum landete, muss sich die Menschheit in Zukunft bewusst werden, dass ein Leben auf Kosten anderer das eigene bedroht. Alles für alle gibt es nur ohne Zaun.


Ludi Fuchs,
11.1.2016, 115. Jahrgang, Nr. 11.

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