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«Wandzeitung» vom 11.9.2016:

Die Legende von der christlich-abendländischen Kultur:

Antike, Islam, Aufklärung.

«Die christlich-abendländische Kultur muss unsere Leitkultur bleiben.» Nicht nur Konservative stimmen dieser Meinung zu und verbinden mit der christlich-abendländischen Kultur Errungenschaften wie Toleranz, Demokratie, geistige Freiheit, Rechtssicherheit. Sie sind der Meinung, dass Europa all dies hauptsächlich dem Christentum verdanke. Nun, nicht in Bethlehem stand aber die Wiege der abendländischen Kultur, sondern im antiken Athen. Hier wurde Europa zum ersten Mal geboren. Hier trennte sich die Philosophie von der Religion und entfaltete sich das freie Denken. Obwohl das antike Rom Griechenland unterwarf, hielt es die griechische Kultur in hohen Ehren. Es herrschte religiöse Toleranz, was angesichts der vielen verehrten Götter im Römischen Reich dem inneren Frieden diente.

Als das Christentum zur Staatsreligion erhoben wurde, veränderte sich das geistige Klima in Europa grundlegend. Innerhalb weniger Jahrhunderte entstand eine hierarchische Kirche, deren Monotheismus das Ende der religiösen Toleranz bedeutete. Philosophie und Wissenschaft, Prunkstücke der antiken Kultur, wurden verachtet. Weite Teile des kulturellen Lebens verödeten. Schulen und Bibliotheken wurden geschlossen.

Die zweite Geburt Europas wurde von aussen angestossen. Die wichtigsten Impulse kamen von der arabisch-islamischen Kultur. In Bagdad, Damaskus und im spanischen al-Andalus blühten die Wissenschaften. Islamische Gelehrte übersetzten wichtige Werke aus dem Griechischen. Zum Glück für Europa gelangte das von der katholischen Kirche für nutzlos befundene antike Wissen in die grossen Bibliotheken der muslimischen Welt.

Im 11. Jahrhundert verlor die islamische Kultur an Dynamik. Auf dem Weg zum religiösen Heil galten weltliche Erkenntnisse fortan als eher hinderlich. In Europa indes führte die Auseinandersetzung mit dem aus dem islamischen Kulturraum importierten Wissen zu einer Zeitenwende. Vorreiter war Italien, dessen südlichster Teil 250 Jahre zum muslimischen Herrschaftsgebiet gehört hatte. In Florenz und anderen italienischen Städten nahm die Renaissance ihren Ausgang. Die Freiheit des Denkens wurde immer noch eingeschränkt. Nach wie vor wütete die Inquisition, wurden Hexen und Bücher verbrannt. Dann jedoch erschien eine Bewegung auf der historischen Bühne, der es gelang, die Macht und Deutungshoheit der Kirche erfolgreich zu erschüttern: die Aufklärung. Sie leitete die dritte Geburt Europas ein. «Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen!», forderte Kant 1784. Fünf Jahre später brach die Französische Revolution aus. Heute bilden die Prinzipien der Aufklärung das moralische Gerüst Europas und nicht, wie oft behauptet wird, die religiös geprägten Zehn Gebote der Bibel, deren erstes lautet: «Ich bin der Herr, dein Gott. Du sollst keine anderen Götter haben neben mir.» Dagegen heisst es im Artikel 1 der Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte von 1789:

«Die Menschen werden frei und gleich an Rechten geboren und bleiben es.» Mit diesen Worten begann eine neue Epoche, in der nicht die Hoffnung auf Erlösung, sondern der Kampf um Freiheit und Gerechtigkeit die Welt nachhaltig verändert hat.


Ludi Fuchs,
11.9.2016, 115. Jahrgang, Nr. 255.

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Standpunkte:

16.9.2016, 19:01 Uhr.

Markus Sommer schrieb:

Schön zusammengefasst. Als die Wissenschaft unter islamischer Herrschaft blühte, war der Islam offen und hat einen offenen Austausch mit Juden und Christen und mit griechischen Gelehrten geführt. Ganz so einträchtig war das Zusammenleben jedch nicht. Nichtmuslime waren sogenannte Schutzbefohlene, deren Leben vom islamischen Herrscher geschützt wurde, sie wurden jedoch massiv diskriminiert. Sie durften kein Land besitzen, einige Berufe nicht ausführen und mussten eine spezielle Steuer bezahlen oder mussten zum Islam konvertieren. Juden und Christen konnten sich mit diesen Diskriminierungen arrangieren, zumal der offene Austausch auch blühenden Handel mit sich brachte. Als danach die Christen vom Norden her die Muslime wieder vertrieben wurden die Fronten härter.


12.9.2016, 14:38 Uhr.

Rosmarie Schoop schrieb:

Danke für diesen wertvollen Artikel!


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