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«Wandzeitung» vom 11.11.2016:

Mehr Utopie, bitte!

Grenzenlos denken.

Es gibt vielleicht keinen ungünstigeren Zeitpunkt, um über offene Grenzen zu schreiben. Immer noch dröhnen die Rufe nach mehr Abschottung durch den politisch-medialen Verstärkerraum – mal aus wahlkämpferischem Opportunismus, mal in dem Aberglauben, die «Flüchtlingskrise» lasse sich auf diese Weise irgendwie «beheben».

Unterschlagen wird dabei nicht nur, dass wir in einem Zeitalter der Migration und der Globalisierung auch von Biografien leben, in dem das, was hier für ein «Ausnahmezustand» gehalten wird, eine Normalität von Dauer ist, mit der man umgehen muss. Unterschlagen werden dabei auch die Kosten der Abschottung: Wer über geschlossene Grenzen redet, sollte von den Tausenden Toten nicht schweigen.

Es geht nicht bloss um die Moral von Politikern. Es geht auch um die 40, 50 Prozent, die sich in Umfragen für eine vollständige Schliessung der Grenzen für Flüchtlinge aussprechen. Man muss befürchten, dass sich an diesen Zahlen auch nichts ändert, wenn wieder mehr über die Opfer der Abschottung berichtet würde. Es sind allein in diesem Jahr und nur im Mittelmeer bereits über 4000 Tote zu beklagen. Die Rufe nach geschlossenen Grenzen machen mehr Schlagzeilen. Sollen Linke mit der Forderung nach offenen Grenzen dagegen halten?

Es gäbe dafür wichtige Gründe. Erstens wird die Frage globaler Bewegungsfreiheit nicht allein dadurch beantwortet, dass man Fluchtursachen bekämpft, ein Anliegen, das so oder so richtig bleibt, nämlich deshalb, weil Klimakatastrophe, Kriege, Armut, Hunger, Verfolgung und so fort niemals duldbar sind. Zweitens, weil die Kosten der Abschottung auch bei gemässigten Varianten – also etwa der «regulierten» Zuwanderung – nicht unterschlagen werden können, bei der, das sagt der Name schon, immer auch Menschen draussen bleiben müssen, die dann auf gefährlichen Wegen versuchen werden, es dennoch zu schaffen. Und drittens, weil es verdammt noch einmal nicht die Aufgabe von Linken ist, das politische Denken auf den Radius «pragmatischer», in vier Jahren erreichbarer Lösungen zu begrenzen. Selbstverständlich sind offene Grenzen als globaler Zustand (noch) eine Utopie. Aber das trifft auf vieles andere auch zu, ohne dass deshalb jemand fordern würde, man könnte es ja – zum Beispiel: bei ein bisschen Ausbeutung belassen, statt diese ganz überwinden zu wollen.

Der Weg, Bewegungsfreiheit global und für alle gerecht zu ermöglichen, wird lang sein. Darüber zu diskutieren, wie man vorankommt, ist die grosse Herausforderung von heute. Gerade jetzt – weil es vielleicht keinen ungünstigeren Zeitpunkt gibt, um über offene Grenzen zu schreiben. Die Alternative nämlich ist keine: sich auf die eine oder andere Weise auf einen «Gated Capitalism» einzulassen, in dem die kleiner werdenden Wohlstandszonen um den Preis tödlicher Gewalt vom Rest abgeschottet werden.


Ludi Fuchs,
11.11.2016, 115. Jahrgang, Nr. 316.

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Standpunkte:

12.11.2016, 20:57 Uhr.

Pierre-François Bocion schrieb:

Es ist so einfach, den Besitz anderer Leute zu verteilen: Bei Gelegenheit über Ökologie zu schwatzen und ein anderes mal für grenzenlose Einwanderung. Ein ganzheitliches Denken ist anspruchsvoll, das will nicht jeder.


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