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«Wandzeitung» vom 27.12.2016:

Unsere Urteilsfähigkeit wird unausgeglichener, unberechenbarer und unvernünftiger:

Atemlos durch das Jahr.

Der Abend des 19. Dezembers dieses Jahres steht leider symbolisch für das zu Ende gehende Jahr und ganz allgemein für die Zeit, in der wir leben: Am Vorabend geht eine Eilmeldung über den Ticker, der russische Botschafter in Ankara sei angeschossen worden. Kurz darauf den online-Portalen zu vernehmen, in einer Moschee in Zürich seien Schüsse gefallen. Und noch am selben Abend läuft am Fernsehen eine Ticker-Banderole mit der Meldung, ein LKW sei in einen Berliner Weihnachtsmarkt gerast, es hätte Tote und Verletzte gegeben.

Attentate und Terror – neben schrecklichen Kriegsbildern und fliehenden Menschen – haben uns auch dieses Jahr leider zu oft begleitet. Und im Zeitalter von Breaking News, Sondersendungen und Liveticker verfehlt dies auch die Wirkung auf uns nicht: Was irgendwo auf der Welt passiert, so der Eindruck, passiert vor meiner Haustüre, in meiner Wohnstube. Die Distanz, sowohl räumlich wie auch zeitlich, wird aufgehoben. So kann es vorkommen, dass man sich bei einem Attentat in der betroffenen Grossstadt oder im entsprechenden Land befindet – davon aber von Freunden aus der Heimat erfährt. Gleichzeitig wird mit der Mitteilung einer Tragödie ein Informationsvakuum geschaffen, das zwar alle Aufmerksamkeit aufsaugt, aber inhaltlich nicht gefüllt werden kann: Zwar wird im TV-Studio rasch zusammengefasst, was bisher geschah, der Terrorexperte gibt seine Einschätzung ab, die Live-Schaltung vor Ort wird aufgebaut, Polizei-Twitter-Meldungen und nicht verifizierte Aussagen von Augenzeugen werden weitergegeben – aber gesichert ist meist lange nichts. Es wird gemutmasst und spekuliert und dabei betont, dass zum aktuellen Zeitpunkt noch wenig klar und vieles auch anders sein könnte und man deshalb zur Zurückhaltung und zur Vorsicht mahnen müsse und ja keine voreiligen Schlüsse ziehen dürfe.

Gleichzeitig wecken die schrecklichen Meldungen und Bilder auch Erwartungen. Etwa die Erwartung, nach umfassenden, einfachen und einleuchtenden Erklärungen dafür. Diese Erwartungen können aber nicht erfüllt werden. Weil ein Schadensbild zwar rasch aufgenommen und weltweit verbreitet ist, die sorgfältige Abklärung des Tathergangs aber nachvollziehbarerweise mehr Zeit braucht und Zusammenhänge und Hintergründe viel komplexer sind.

Das führt letztlich dazu, dass wir es kaum schaffen, das, womit wir konfrontiert werden, einzuordnen, zu verstehen, zu verarbeiten. Vereinfacht gesagt: Die technische Übermittlung von Bildern und Nachrichten ist letztlich schneller, als deren rationale und emotionale Verarbeitung. Was zurückbleibt, sind viele offene Fragen und ein Gefühl der Unsicherheit, Ohnmacht und Überforderung. Und diese Unsicherheit, Ohnmacht und Überforderung ist wahrscheinlich in ihrer Wirkung für die Gesamtgesellschaft gefährlicher als die tragischen Attentate selber. Denn es besteht die Gefahr, dass die Atemlosigkeit und Heftigkeit, wie heute Nachrichten verbreitet werden, ohne verarbeitet werden zu können, auch etwas mit uns auslöst. Dass auch wir in unserem persönlichen Handeln und unserer politischen Urteilsfähigkeit unausgeglichener, unberechenbarer und damit unvernünftiger werden.


Nicolas Galladé,
27.12.2016, 115. Jahrgang, Nr. 362.

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