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«Wandzeitung» vom 22.11.2016:

Wann bin ich das letzte Mal so unverblümt kritisiert worden?

Vor Gericht flogen Fetzen und Tränen.

Vor Gericht kochen die Emotionen verständlicherweise oftmals hoch. Die Angelegenheiten sind persönlich, die Fragen unangenehm, der Anlass mehrheitlich unerfreulich. Während den Verhandlungen in den ersten drei Monaten meiner juristischen Tätigkeit flogen Fetzen und flossen Tränen, was erst einmal gewöhnungsbedürftig war. Irritiert war ich aber vor allem, als die Richterin eine der Parteien während der Verhandlung das erste Mal sachlich, aber sehr klar darum bat, jetzt endlich still zu sein und zuzuhören. Diese direkten Worte lösten Erstaunliches aus: Eine aufgebrachte Person, sich selbst eben noch in Rage redend und wild gestikulierend, schluckte einmal leer und hörte anschliessend aufmerksam zu, bis sie selbst wieder an der Reihe war, ihren Standpunkt darzulegen. Und auch meine Reaktion darauf war zuerst, die Vorsitzende kurz mit grossen Augen anzuschauen. Aber nach dem ersten Schreck, fand ich sie eigentlich ziemlich cool.

Trotzdem machte mich vor allem mein eigenes Erstaunen über diese Direktheit nachdenklich. Ich fragte mich, wann ich das letzte Mal so unverblümt kritisiert worden bin. Ich konnte mich nur schwer erinnern. Kritik, auch wenn sie sachlich ist, scheint mir irgendwie immer unangebracht. Selbst wenn sich in meinem nahen Umfeld jemand total daneben aufführt, braucht es einen guten Grund und viel Überwindung, ihn oder sie persönlich darauf anzusprechen und zu kritisieren. Und auch in der beruflichen Umgebung wird versucht, Kritik möglichst verklausuliert abzugeben. Arbeitszeugnisse zum Beispiel werden in einer ganz eigenen Sprache verfasst. Wenn dort steht, ein Arbeitnehmer habe im Kollegenkreis als beliebter Mitarbeiter gegolten, dann heisst das übersetzt:

Dieser Mitarbeiter neigt zu geselligen Verhaltensweisen, a.k.a. er trinkt bei Firmenanlässen gerne mal einen über den Durst und erzählt dann peinliche Witze. Und wenn gelobt wird: Das Verhalten des Mitarbeitenden sei stets vorbildlich gewesen, heisst das eigentlich, dass die erbrachte Leistung ungenügend war, da sie schlicht nicht erwähnt wird. Allgemein ist das Nichtgesagte eigentlich wichtiger. Das ist ja zwischenmenschlich ähnlich. Nichts ist schlimmer, als sich nach einer mutigen Entscheidung beim Friseur einem Bekanntenkreis aussetzen zu müssen, der die Veränderung geflissentlich ignoriert. Dann weiss man: Aha, die Frisur sieht also scheisse aus. Das erniedrigende Online-Äquivalent dazu besteht aus einem geposteten Selfie ohne Likes.

In einer zur Komplimentsucht neigenden Gesellschaft, in der Negatives grundsätzlich nur hinter dem Rücken der betreffenden Person geflüstert wird, ist die Direktheit eines Gerichtsaals, in dem Gefühlen freien Lauf gelassen werden darf, erfrischend. Direktheit muss ja nicht negativ, sondern kann eine Form von Respekt sein. Wenn wir nicht um den heissen Brei herumreden, bedeutet das, dass wir dem Gegenüber zutrauen, mit unseren Gedanken und Meinungen umzugehen. Ich nehme mir also vor, direkter, klarer, unverblümter zu sein. Ich finde, das sollten wir alle tun. Damit unser sprachlicher Austausch nicht vollkommen an Inhalt und Bedeutung verliert.


Anita Hofer,
22.11.2016, 115. Jahrgang, Nr. 327.

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