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«Wandzeitung» vom 20.11.2016:

Glücksmarathon:

Nach Hause.

Wer reist, lernt, dass er sich keine Sorgen zu machen braucht, weil immer alles gut kommt. Ich war in Südfrankreich, nahe der spanischen Grenze und habe mich entschieden, per Autostopp nach Hause zu reisen. Alleine. Ich hatte zwei Tage zur Verfügung, um etwas über 1000 Kilometer zurückzulegen. Von Pamiers, Departement Ariège, bis nach Engi, Kanton Glarus. So weit bin ich noch nie alleine gestöppelt, und obwohl ich als erfahrene Reisende weiss, dass man sich keine Sorgen zu machen braucht, weil immer alles gut kommt, machte ich mir ein wenig Sorgen. Ich zog in Erwägung, mir auf halbem Weg einen Schlafplatz zu organisieren oder alternative Transportmöglichkeiten herauszuschreiben für den Fall, dass etwas nicht klappte. Dummerweise gab es da, wo ich war, kein Internet, und so kam es, dass ich mich dem Schicksal anvertraute. Etwas spät, um 10 Uhr morgens, stand ich am Kreisel in Pamiers mit einem Schild auf dem «Carcassonne» stand. Ein älterer Mann hielt, liess die Fensterscheibe runter und fragte etwas, das ich nicht auf Anhieb verstand. Als mir klar wurde, dass er Sex wollte, verschlechterte sich meine Laune augenblicklich. Der Grüsel hatte mir von einer Sekunde auf die andere meine geschlechtsspezifische Verletzlichkeit auf unangenehmste Weise vorgeführt. Ich hätte heulen können. Ich blieb eine Weile am Strassenrand stehen und hielt weiterhin tapfer den Daumen hoch. Eine freundliche Frau hielt an und nahm mich ein Stück weit mit. Sie sagte, ich sei mutig. Ich erzählte ihr nichts von dem Grüsel. Als ich mich von ihr verabschiedete, fühlte ich mich schon wieder etwas besser. Ich wartete etwa fünf Minuten, bis ein Lieferwagen hielt: Zwei ältere Männer und ein Schäferhund, die, wie sich bald herausstellte, auf dem Weg nach Les Rousses waren. Ein Touristenort im Hochjura gleich bei der französisch-schweizerischen Grenze. Ich konnte mein Glück nicht fassen und rief immer wieder, wie unglaublich das sei. Selig hockte ich auf der Rückbank neben dem Schäferhund und blickte selbstvergessen zum Fenster heraus. Meine Zuversicht hatte sich gelohnt, dachte ich. Nun würde ich es bestimmt schaffen, bis zum morgigen Abend in Engi zu sein. Nach etwa zwei Stunden traute ich meinen Augen nicht, als wir einen Bäbler+Blumer-Lieferwagen überholten. Bäbler+Blumer ist die Holzbaufirma meines Onkels mit Sitz in Engi. Dass er seine Mitarbeiter bis nach Südfrankreich entsendet, erschien mir ziemlich unwahrscheinlich. Ich versuchte, die wundersame Begebenheit meinen Reisebegleitern mitzuteilen, was mir in der Aufregung und mit meinem wirren Französisch eher schlecht gelang. Die beiden Männer lächelten bloss höflich. Wahrscheinlich dachten sie, ich sei ein bisschen hinüber. Es stellte sich heraus, dass ein Mitarbeiter meines Onkels und dessen Bruder in eigener Mission nach Frankreich gefahren waren, um eine Maschine für den elterlichen Bauernbetrieb zu kaufen. Ich traf die Brüder an der nächsten Raststätte und wechselte von einem Glücksmobil ins nächste. Ich fühlte mich, als wäre ich bereits zu Hause zwischen den beiden Älplern. In den folgenden elf Stunden redeten wir über Käseherstellung, Rohmilchprodukte, Kinder, «Bauer, ledig sucht» und Millionengewinne im Lotto. Kurz vor Mitternacht lieferten sie mich vor dem Haus meiner Mutter ab. Das war einer der besten Momente im Leben.


Anita Blumer,
20.11.2016, 115. Jahrgang, Nr. 325.

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