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«Wandzeitung» vom 24.1.2016:

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7 Uhr früh morgens im Bus.

Bushaltestelle. Wetter: Kalt und windig. Persönlicher Status: müde und demotiviert. Der Bus biegt um die Ecke und ich wappne mich für das Duell zwischen dem Türöffnungsknopf und mir, wie auch für die folgenden 15 quälenden Minuten. Überraschenderweise unterliegt mir die Tür bereits nach dem zehnten Versuch. Stolpernd betrete ich den Bus, der auch sogleich mit Lichtgeschwindigkeit losfährt, so dass ich mich nur noch knapp mit einem Hechtsprung auf den Sitz werfen kann. Kaum macht man es sich bequem, ertönt schon die schrille Stimme einer Frau, die freundlicherweise den gesamten Bus an ihrem Telefongespräch teilhaben lässt und sich lauthals über ihren Arbeitgeber beschwert. Seufzend entwirre ich meine Kopfhörer, um den störenden Geräuschen zu entfliehen. Sobald die Computerstimme den nächsten Halt ankündigt, schleudert mich das ruckartige Bremsen beinahe in Richtung Windschutzscheibe. Wieder öffnet sich die Bustür, kalte Luft schlägt mir entgegen und ich sehe schon mein nächstes Unheil näher kommen. Eine ältere Dame klettert ins Innere und steuert direkt auf mich zu. Im Versuch freundlich zu wirken, setze ich mein bestes Lächeln auf, welches mir sofort wieder vergeht, als sie mich darauf hinweist, dass ich auf ihrem Platz sitze. Wiederstrebend und unter Stöhnen erhebe ich mich und suche mir einen neuen Platz. Ungeduldig schweift mein Blick zur Anzeigetafel und ich muss bestürzt feststellen, dass ich noch ganze fünf Haltestellen ausharren muss und der Bus füllt sich gnadenlos immer mehr. Es wird gedrängelt, gedrückt und geflucht. Zwei Haltestellen vor meiner Erlösung erblicke ich meinen wahrgewordenen Albtraum: einen Kinderwagen. Das Ungetüm wird von der schlechtgelaunten Mutter in das Gefährt gewuchtet, ohne Rücksicht auf Verluste. Das Geschrei des Kindes kann weder von meinen Kopfhörern, noch von den höchst interessanten Gesprächen meiner Sitznachbarin mit ihrer Freundin übertönt werden. Übrigens lässt mich meine Sitznachbarin auch am Fortbestand der Menschheit zweifeln, oder bin ich die einzige, die nichts von den «Antisemisten, die unser Land unterwandern» wusste? Und dann endlich, meine Haltestelle wird angesagt und ich drücke den rettenden Stoppknopf. Natürlich lässt sich meine Sitznachbarin nicht dazu herab, kurz aufzustehen, um mich vorbeizulassen, weshalb ich über sie hinweg klettern muss. Der Weg zur Freiheit scheint der finale Kampf zu sein, den es mit viel Ellbogeneinsatz zu bestreiten gilt. Vorbei an der lästernden Telefonierenden, vorbei an der alten Dame, vorbei am Kinderwagen und in letzter Sekunde raus aus dem Bus. Diese stressige Tortur ereignet sich fünf Tage die Woche und doch bin ich jedes Mal von neuem schockiert. Aber ich glaube doch, dass ich aus diesen Ereignissen wichtige Erfahrungen für mein späteres Leben sammeln kann:

Wir alle werden alt und müssen auf unserem rechtmässigen Platz im Bus beharren. Babys sind laut und gehören nicht zu Stosszeiten in den öffentlichen Verkehr. Und Ellbogen können Leben retten.


Noëlle Lee,
24.1.2016, 115. Jahrgang, Nr. 24.

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