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«Wandzeitung» vom 22.10.2017:

Freiheit:

Ein Mythos, den es zu verteidigen gilt.

Jede menschliche Gesellschaft braucht gemeinsame fiktive Mythen schreibt Yuval Noah Harari in seinem Buch „Eine kurze Geschichte der Menschheit“. Die Mythen unserer Zeit heissen unter anderem Freiheit, Gleichheit, Kapitalismus, Gott und Menschenrechte. Dinge, die in der Natur nicht existieren, aber in unseren Köpfen umso überzeugender.

Ich glaube beispielsweise an die Freiheit. Das ist naheliegend. In den letzten 30 Jahren wurden in der Schweiz Chancengleichheit, Persönlichkeitsrechte und soziale Sicherheit immer weiter ausgebaut und dies führte natürlicherweise zu einem persönlichen und kollektiven Gefühl der Freiheit. Doch was bedeutet Freiheit? Für mich bedeutet es, frei zu sein von Erwartungen und Ansprüchen an mich selbst. Diese Ansprüche sind paradoxerweise das Resultat desselben Freiheitsmythos‘. Denn wie es sich für einen Mythos gehört, ist auch die Freiheit ein widersprüchliches Konstrukt. Sie besagt nämlich nicht nur, dass wir frei sind, sondern impliziert auch, dass wir unsere Freiheit nutzen sollen. Wir sollen uns verwirklichen, das Glück jagen, etwas erreichen. So ist die Freiheit sowohl Möglichkeit als auch Imperativ. Ich strebe nach einer Freiheit, die nur aus Möglichkeiten besteht. Eine Freiheit, die frei ist von Ansprüchen und moralischen Forderungen. Meine Freiheit muss also erst noch befreit werden.

Vielleicht finden sie diese Idee von Freiheit absurd und haben ihre ganz eigene Vorstellung. Macht nichts. Freiheit existiert sowieso nur in der menschlichen Vorstellung. Für die bekannte Konvertitin Nora Illi bedeutet Freiheit, eine Burka zu tragen. Dafür habe ich ein gewisses Verständnis. Ich habe oft das Bedürfnis, mich zu verstecken, in den Hintergrund zu treten, zu verschwinden. Natürlich eignet sich eine Burka dafür schlecht, da man mit diesem Gewand hierzulande besonders viel Aufmerksamkeit erregt. Doch vielleicht, und das weiss nur die Burkaträgerin selbst, schützt der schwarze Stoff die Aura der Trägerin vor den verstohlenen Blicken der Passanten. Und vielleicht ist es auch nicht die Freiheit zu verschwinden, die Nora Illi meint, sondern die Freiheit aufzufallen. Auch dies ist eine Freiheit, die man sich bei uns nehmen darf. Jeder darf herumlaufen, wie er will, solange es seinen Arbeitgeber nicht stört. Ich mache von diesem Privileg oft Gebrauch. Dann laufe ich in einem alten Gewand und fettigen Haaren herum und setze mich mit unrasierten Beinen und ohne BH ins Café. Dabei fühle ich mich total frech und frei. Natürlich ist das harmlos.

Es soll aber auch erst der Anfang sein. Wenn die Zeit reif ist, werde ich an der Kreuzung tanzen, als Elefant verkleidet in die Migros gehen und die Burkaträgerin fragen, ob ich mich, nur ganz kurz, unter ihrem Gewand verstecken darf.


Anita Blumer,
22.10.2017, 116. Jahrgang, Nr. 295.

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