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«Wandzeitung» vom 22.12.2017:

Cafégeschichten:

„Du dumme Saulesbe!“

Seit ein paar Wochen habe ich einen Job als Kellnerin. Eigentlich bin ich ja Filmemacherin. Das sage ich, wenn man mich fragt. Dann sage ich, um mir meine künstlerische Freiheit zu bewahren und also nicht aufs Geld angewiesen zu sein, arbeite ich nebenher im Service. Das wertet die Sache auf. Eine andere Version wäre: Ich bin als Filmemacherin gescheitert, drum arbeite ich jetzt im Service.

Aber was heisst das schon, scheitern? Und was bedeutet umgekehrt Erfolg? Da es immer etwas scheinheilig ist, wenn erfolgreiche Leute sagen, dass Erfolg keine Rolle spielt, sage ich es jetzt: Erfolg spielt eine Rolle, aber nur eine marginale. Die wesentlichen Lebensaufgaben und Fragen bleiben unverändert, egal ob man einen Blockbuster landet oder nicht. Man fährt mit dem Velo durch den Matsch und spritzt sich dabei die Hosenbeine nass. Der Arzt verordnet einem Physiotherapie und entzündungshemmende Medikamente, weil man unerklärliche Rückenschmerzen hat. Man weiss nicht, ob man diese Medikamente nehmen soll und man hat keine Lust auf Physiotherapie. Man weiss nicht, wo die Versicherungskarte ist. Man würde gerne mehr meditieren, oder wandern oder lesen, schafft es aber nicht.

All diese Dinge beschäftigen einen unabhängig davon, ob man im Café arbeitet oder an einem Filmset. Also laufe ich mir weiterhin im Café die Füsse wund, lächle und frage was es denn sein darf. Das Café ist ein guter Ort für eine Filmemacherin. Denn das Café ist voller Menschen und Geschichten.

Letzthin kam ein Stammgast. Es war schon dunkel draussen. Er setzte sich an die Bar und bestellte ein Glas Rotwein. Dazu las er die Zeitung. Dann kam eine Frau, sie ist ebenfalls Stammgästin und fragte den Mann, ob neben ihm noch ein Platz frei sei. Der Mann sagte Ja und packte wütend seine Sachen, um sich zwei Hocker weiter hinzupflanzen. Dabei fluchte er leise. Die Frau fragte ihn, was los sei. Dann begann der Mann die Frau zu beschimpfen, weil sie ausgerechnet neben ihn hocken musste, obwohl die ganze Bar frei war. Sie sagte, so etwas Frauenfeindliches, wie ihn habe sie noch selten erlebt. Er antwortete: Halt die Klappe du dumme Saulesbe! Wie er auf Lesbe kam, bleibt ungeklärt, aber der Mann klang wütend und bedrohlich, so dass ich Angst um die Frau bekam. Der Chef versuchte den Streit zu schlichten, doch das funktionierte nicht. Der Mann bezahlte kurz darauf und ging.

So sind die Menschen also, dachte ich später. Die kleinste Irritation bringt das Fass zum Überlaufen. Das war schon immer so. Aber im Gegensatz zu heute durften die wütenden Menschen früher rassistisch, homophob, antisemitisch und frauenverachtend sein. Sogar das Gesetz war so. Heute ist das alles nicht mehr erlaubt. Aber die Wut, die ist immer noch da. Wohin mit ihr? Und woher kommt sie eigentlich? Sind sie auch manchmal wütend?


Anita Blumer,
22.12.2017, 116. Jahrgang, Nr. 356.

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