Logo Wandzeitung
Herausgeber: Guido Blumer & Roger Rutz.
Archiv:   Blog:   Echo:   Home:   Kontakt:   Leitbild:   Partner:   Sponsoren:   Twitter

«Wandzeitung» vom 15.8.2017:

Der Glaube der Russen an bürokratische Hindernisse, die es nicht mehr gibt:

Kein Papier, kein Mensch.

Meine Kollegin und Künstlerin Tamara hat schon zahlreiche Angebote für Ausstellungen im Ausland bekommen hat. Doch jedes Mal denkt sie sich Hindernisse aus, die sie an einer Teilnahme hindern. Ihre beliebteste Ausrede ist, sie hätte eben keinen Reisepass, und bis vor kurzem war sie tatsächlich felsenfest überzeugt, nie einen Pass zu bekommen. Und das wegen eines lächerlichen Stempels. Die so genannte «Propiska», der Wohnsitznachweis im Personalausweis war eine Geissel der sowjetischen Gesellschaft und ist es trotz Gesetzesänderung bis heute geblieben. Dieser Teufelsstempel stammt aus einer Zeit, als man wegen der katastrophalen Landflucht versuchte, den Zuzug in die Städte zu begrenzen – in erster Linie nach Moskau und Leningrad.

Dadurch wurde die arme Landbevölkerung ausgegrenzt und von den Privilegien der Hauptstädter ausgeschlossen. Eine verdeckte Zweiklassengesellschaft entstand, und viele waren bereit, ein Verbrechen zu begehen oder eine Schein-Ehe zu schliessen, nur um eine Leningrader oder Moskauer Propiska zu bekommen. Unzählige menschliche Tragödien gehen auf Kosten dieses Stempels, ohne den es nichts gab – keine Arbeit, keine Gesundheitsversorgung, keine Rente, usw. Hinzu kam, dass SowjetbürgerInnen lange Zeit nur in Ausnahmefälle und nach langwierigen Abklärungen und vielen bürokratischen Hürden einen Reisepass erhielten.

Zwar haben heute alle russischen BürgerInnen ein Anrecht auf einen Reisepass, wenn sie nicht zu den so genannten «Geheimnisträgern» gehören, aber psychologisch wirken diese «Fussangeln» immer noch nach. Noch 2016 waren 80 Prozent der russischen Bevölkerung nie im Ausland und 72 Prozent besassen überhaupt keinen Reisepass.

Ein Grossteil reist nicht, weil das Geld zum Reisen fehlt, aber viele glauben an bürokratische Hindernisse, die gar nicht mehr existieren - zum Beispiel Tamara. Ihre Familie stammt aus der Kleinstadt Anthrazit in der Ostukraine. Als die Sowjetunion Ende Achtzigerjahre zerfiel, übersiedelte die Familie ins südrussische Wolgograd, doch der Geburtsort steht immer noch in Tamaras Pass und macht ihr grosse Sorgen, weil der Ort von der selbsternannten Lugansker Volksrepublik kontrolliert wird ein bürokratisches Niemandsland darstellt.

In den Neunzigerjahren studierte Tamara an der Petersburger Kunstakademie und erhielt einen Wohnsitz in einem Studentenheim. Doch als dieses Heim aufgelöst wurde, verlor sie auch die «Propiska». «Ohne sie bekomme ich keinen Reisepass» – das betete sie vor sich her, als wir vor zwei Tagen ins «Zentrum für Dokumente» fuhren. In diesem modernen Bürokomplex kann man gegen Geld alle mühsamen Angelegenheiten der staatlichen Bürokratie legal und komfortabel erledigen. Alles – vom Führerschein bis zum Reisepass.

Als ihr die freundliche Dame an der Auskunft sagte, sie könne auch ohne Wohnsitz problemlos einen Reisepass beantragen, glaubte ihr Tamara nicht. Sie misstraute nicht nur ihrer Auskunft, sondern auch ihrer Freundlichkeit. Erst als sie den Passantrag in den Händen hielt, den eine weitere freundliche und geduldige Konsultantin mit ihr ausgefüllt hatte, glaubte sie es. Denn ohne Papier ist ein Mensch kein Mensch.


Eugen von Arb,
15.8.2017, 116. Jahrgang, Nr. 227.

Artikel als PDF downloaden

Zu diesem Artikel wurde noch kein Standpunkt abgegeben.

 

Veröffentlichen Sie als erste Person Ihren

Standpunkt*:

Name:

*Wir freuen uns sehr über Ihre Gedanken zum Text des Tages, bitten Sie jedoch, keine Personen zu verunglimpfen und deren Haltung mit Respekt zu begegnen. Danke schön. Verstösse gegen unser Leitbild werden indes nicht verbreitet.

 

Winterthurs kleinste Zeitung der Schweiz.