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«Wandzeitung» vom 18.9.2014:

Berlin, ick liebe Dir:

Koffer in Berlin.

«Ick hab noch einen Koffer in Berlin, deswegen muss ich da nächstens wieder hin; die Seligkeiten vergangener Zeiten, sie sind alle noch in diesem kleinen Koffer drin.» Das singt nicht nur Hildegard Knef in einem ihrer vielen wunderbaren Lieder. Das empfinden auch unzählig andere gleich. Auch ich. Es kam so:

Ich bin in Winterthur aufgewachsen. Nicht mitten drin im Bahnhofsgebäude wie Balz Hosang, sondern in Veltheim. Winterthur war für mich der Mittelpunkt der Welt und das Mass aller Dinge. Mit 22 Jahren ermöglichten mir meine Eltern ein Semester im Ausland. Ich wählte Berlin wegen der politischen Situation. Zum ersten Mal wirklich im Ausland, kam ich richtig auf die Welt. Ich entdeckte, dass vieles auch anders sein kann als zuhause. Eine Polizeistunde gab es in Berlin nicht. Vieles, was in Westberlin erlaubt war, war «drüben», in Ostberlin, verboten und umgekehrt. Mit dem westlichen «Tagesspiegel» unter dem Arm von einem Vopo erwischt zu werden, bedeutete das Gleiche wie mit einem Leninbuch von den Amerikanern gesehen zu werden: Konfiskation. Drüben bezahlten wir mit Ostmark, die wir am Zoo zu einem Wert von weniger als einem Viertel gekauft hatten, was vom Osten her verboten war, aber alle aus dem Westen taten. Der Potsdamer Platz war mit Ruinen übersäht. Die Eierschale war als rauch- und schweissgeschwängertes Kellerlokal mit Tanz einer der Treffpunkte der Jugend. Und dann war Berlin unendlich gross, eben eine wirkliche Grossstadt. Als ich sie verlassen musste, war ich verliebt in sie.

Seither bin ich immer wieder einmal hin, zur Zeiten der Mauer und darnach, als die Züge noch zum Bahnhof Zoo fuhren und seit der neue Hauptbahnhof existiert. Und nun war ich auch im August wieder dort. Wie sich die Stadt doch verändert hat seit meinem ersten Mal. Trotz unendlich vieler neuer Gebäude, Baustelle um Baustelle. Entsprechend haben verschiedene öV-Linien nicht nur einen «Baustellenfahrplan»; sie sind auch unterbrochen. Unter den Linden ist wegen der Bauerei momentan keine wirkliche Allee. Ein Bekannter in Neukölln erzählt mir, wie sich seine Umgebung innerhalb von sechs Jahren verändert hat. In das Quartier mit allen Läden des täglichen Gebrauchs kamen zuerst die Türken, die das umkrempelten, dann die Araber, und inzwischen haben sich die Studis breitgemacht, die vom günstigen Wohnraum profitieren und Bio- und andere «gesunde» Läden mit sich gebracht haben.

Veränderungen auch in der Sprache: Die Strassenbahn ist nun teilweise mit Tram angeschrieben, aus dem Sonnabend ist bei vielen ein Samstag geworden, aus dem Ratt ein Fahrrad, die U-Bahn wird auch schon als Metro bezeichnet, die Hörnchen heissen heute Croissants und gehen heisst nun wie bei uns laufen. In Berlin-Mitte findet sich auf einer Hausmauer die Aufschrift «Mitte, raus aus dem Grau, hier ist Euer Fluchtplan ins Grüne.»

Trotz all dieser Veränderungen stelle ich aber fest: Berlin bleibt doch Berlin. Womit wir bei einem anderen Lied der Knef wären.

 

 


Ruth Huber,
18.9.2014, 113. Jahrgang, Nr. 105.

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