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«Wandzeitung» vom 16.12.2014:

EIN SATZ:

Allsehend.

Augenblick, verweile doch, du bist zu schön. Von VON GOETHE.

Nicht nur die Allgemeinen Geschäftsbedingungen, die uns bei Verträgen knebeln, nicht nur die Disclaimer beim Download im Internet, die uns zur häufigsten Lüge des Alltags verleiten – «gelesen und akzeptiert» – nein, auch die klassischen deutschen Dichter verwenden Kleingedrucktes. Bei den Bedingungen hoffen wir, dass uns die Rechtsschutzversicherung aus der Patsche hilft, bei den Dichtern, dass niemand merkt, dass wir nur das Grossgedruckte zitieren, das was als Bildungstreibeis von der schulischen Arktis in unseren Köpfen übriggeblieben ist. Bei den Verträgen ist’s hoffnungslos, auch die Rechtsschutzversicherung hat im Kleingedruckten alles ausgeschlossen, was uns dienlich wäre. Bei den Dichtern hingegen um so erfolgreicher. Oder haben Sie gemerkt, dass das von mir geschändete Zitat in Wirklichkeit ganz anders heisst? «Werd ich zum Augenblicke sagen: Verweile doch! Du bist so schön! Dann magst du mich in Fesseln schlagen, dann will ich gern zugrunde gehn!» Womit wir fugenlos zum eigentlichen Thema unserer heutigen Betrachtung überleiten: Wessen Augen blicken am besten? Jene von Teenies, die sich nächtelang mit Youtubevideos zudröhnen? Auch, aber die meine ich nicht. Sie erinnern sich an die Fichenaffäre, an die unbedarften, damals noch mit Schreibmaschine im Adlersystem getippten Rapporte des Inhalts: «Zielobjekt sieht der Serviertochter im Rössli konspirativ auf die Schürze, ist ein Umstürzler.» Rapporte, die Geschichte schrieben und in denen Kantons- und Bundespolizisten ihre präzisen Beobachtungen und messerscharfen Schlussfolgerungen zu Papier brachten. Deren Potenzial liegt heute brach.

Das schreit nach neuen Einsatzformen. Und so entsorgt die Kantonspolizei ihre Drogentests und vertraut dem geschulten Auge des Gesetzes. Schon einmal zu Beginn der Inkraftsetzung der Schengen-Abkommen patroullierte der Zoll in allen grenzüberschreitenden Zügen – beispielsweise im Interregio von Konstanz nach Winterthur – und liess dabei sein geschultes Auge über die Reisenden schweifen. Alles Schwarze und Bärtige wurde gefilzt. Wie wir wissen, verlief die Übung im Sande. Was die allsehenden Augen erblickten, war für die Verfolgung von Zollvergehen völlig unergiebig. Einkaufstüten mit grenznah erstandenem Ramsch, der selten die Freigrenze von 300 Franken überstieg.

Nach diesem Muster will man wieder vorgehen. Kein Drogenvortest bei Verkehrskontrollen mehr, dafür erblickt Freund und Helfer – aufgrund von Hautfarbe und Gesichtsbehaarung – den Konsum von Partydrogen, die Bekifftheit oder den Medikamentenpegel im Blut. Frei nach Goethe klickt die Handfessel. Nach Stunden erscheint dann ein Rechtsmediziner und sticht eine Vene an. Er muss stechen, ihm fehlt im Gegensatz zum Ordnungshüter der Augenblick. Nichts Nachweisliches ergibt sich, aber etwas bleibt sicher hängen. Augenblick, verweil auf mir.


Adrian Ramsauer,
16.12.2014, 113. Jahrgang, Nr. 194.

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