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Herausgeber: Guido Blumer & Roger Rutz.
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«Wandzeitung» vom 7.11.2015:

Die Zukunftsangst von verwandten Heimatvertriebenen ist auch für Schweizer unerträglich:

Auch unsere Nächsten sind Flüchtlinge.

Mein Grossvater väterlicherseits floh, wie dazumal viele Menschen aus dem Land der Dichter und Denker, vor dem ersten Weltkrieg 1914 aus Bettenfeld in Rothenburg ob der Tauber über Moskau nach Winterthur. Damals erreichte der Ausländeranteil an der Gesamtheit der helvetischen Bevölkerung beachtliche 16 Prozent, weil auch noch reichlich Italiener und Franzosen vom Grundsatz des freien Personenverkehrs profitierten und die bedingungslose Einreise wahrnahmen. Vom Fleiss all dieser tüchtigen zuwandernden Arbeiterinnen und Arbeitern profitierte die Schweiz wirtschaftlich enorm. Diese immigrierenden Menschen erwirkten einen veritablen Wirtschaftsaufschwung. Sie bauten grosse Eisenbahnprojekte: errichteten Tunnels durch den Gotthard, Simplon, Lötschberg – erstellten Strassen, Häuser sowie Staudämme. Mit den Bauarbeitern zogen auch viele tüchtige Italienerinnen als Arbeiterinnen in die Schweiz, die vorwiegend in der Textilindustrie benötigt wurden. Damals hielten sich bereits 117 000 Personen aus Italien in der Schweiz auf.

Des Vaters Vater, Georg Friedrich Weber, liess sich damals mit seiner Frau Marie am Holderplatz 6 nieder. Sie lebten in diesem Haus, und der schneidige Schneider hatte dort auch seine Werkstätte. Es ist überliefert, dass sich der tüchtige Schneidermeister allemal freute, wenn er seinen Fünfliber im Hosensack hier und dort in den Beizen am Graben in ein kühles Helles umtauschen konnte, um so die Wirtschaft anzukurbeln. Über seine gewiss abenteuerliche Flucht aus seinem Heimatland konnten wir Nachkommen leider nichts erfahren. Er starb 1948, im Jahr in dem sein erster Enkel geboren war.

Jetzt aber haben wir die in den Siebzigerjahren erahnten zunehmend unüberschaubaren Völkerwanderungen, die der ehemalige SP-Stadt- und Nationalrat Albert Eggli voraussagte, und weiland dafür plädierte, dass die reichen Länder der Welt in ganz grossem Stil Hilfe zur Selbsthilfe in den Sorgenländern leisten sollten. Vieles ist zwar geschehen, etwa in Afrika, aber niemals genug. Nun sind unüberschaubare Massen von flüchtenden Menschen unterwegs, unzählige Einzelschicksale. So wie etwa der kleine tote Junge, mit rotem T-Shirt und kurzer blauer Hose, am Strand im Süden der Türkei. So unerträgliche Bilder werden uns zunehmend die Augen öffnen und unseren Schlaf der Gerechten stören. Weil wir zunehmend und ganz plötzlich persönlich betroffen sind:

Auf einmal geht es etwa um den Cousin meines Schwiegersohns: Niyamet, den tüchtigen aserbeidschanischen Journalisten und Herausgeber seiner regierungskritischen Zeitung, gegen den in seinem Land ein Strafverfahren läuft, weil er den Kurs der Staatsgewalt kritisiert und gegen die olympischen Spiele in Baku angeschrieben hat. Er wartet mit seiner Frau und den zwei- und vierjährigen Kindern voller Angst in einem Solothurner Asylheim: die Ausschaffung nach Polen befürchtend. Er hat kaum eine Chance, weil er bei der Fahrt durch dieses Land in Richtung Schweiz – wo seine gesamte Grossfamilie in Sicherheit lebt – sofort registriert worden ist und deshalb ausgewiesen werden muss. Muss? Niyamet ist ein unternehmerischer Mensch, ein so tüchtiger wie weiland mein Grossvater, der das Leben seiner Familie selbst erwirtschaftet.

Nachtrag: Niyamets Gesuch ist von unserer Bundespräsidentin abgelehnt worden. Er wird die Schweiz in Richtung Polen verlassen müssen. Das schmerzt gewaltig ...


Guido Blumer,
7.11.2015, 114. Jahrgang, Nr. 311.

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