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«Wandzeitung» vom 16.8.2015:

Es wühlt uns auf, wenn wir fast unmittelbar davon betroffen sind:

Das Sterben.

Einer mir nahestehenden Person wurde vor einigen Monaten eröffnet, dass sie mit hoher Wahrscheinlichkeit ein Pleuramesotheliom hat. Das ist ein Tumor zwischen dem Bauch- und Rippenfell in der Lunge. Asbestkrebs. Es sei nicht ungewöhnlich, dass die Krankheit erst über sechzig Jahre nach dem Kontakt mit Asbest ausbricht. Als junger Maschinenschlosser hat mein Vater Dieselmotoren mit Asbest isoliert. Der feuerfeste Faserstoff wurde in der Schweiz schon im Jahr 1970 als karzinogen eingestuft, verboten wurde er aber erst 1990. Laut der Sachbuchautorin Maria Roselli ist dies auf offensive Lobbyarbeit zurückzuführen.

Mein Vater kann nicht so recht glauben, dass er ein Pleuramesotheliom hat. Er habe extrem wenig mit Asbest zu tun gehabt. Aber anscheinend genügt eine kleine Menge Asbestfasern, die durchs Atmen in die Lunge geraten, dass man krank wird beziehungsweise dass die Krankheit nach Jahrzehnten ausbricht. Eine Operation könnte die Diagnose bestätigen, ist aber angesichts des Alters meines Vaters nicht sinnvoll. Mein Vater ist 86 und nimmt es eigentlich gelassen. Er sagt, dass er schon zweimal gestorben wäre, wäre er nicht medizinisch versorgt worden. Einmal hatte er eine Prostataoperation und einmal wurde ihm die mit Steinen prallgefüllte Gallenblase entfernt. Er habe auch nicht den Anspruch, 90 zu werden. Mein Vater beklagt sich nicht, er ist höchstens wehmütig, wenn er sich wieder mal bewusst wird, dass er wohl nie mehr auf den Säntis oder einen anderen Berg steigen wird. «Schöne Erinnerungen» hat er ein Blatt betitelt, auf dem er über die Jahre hinweg festgehalten hat, wann er welche Gipfel erklommen hat.

Nach der letzten Lungenpunktion – die Lunge füllt sich wegen der Krankheit sukzessive mit Wasser – zeigte mir mein Vater seinen für mich wohl wichtigsten Ordner. Darin befinden sich unter anderem sein von Hand geschriebener Lebenslauf, die Grundlage für die Beerdigungs-Rede, und die Namen der Menschen, die über seinen Hinschied informiert werden sollen. Auch der Konfirmations-Spruch, den er auf seinen weiteren Lebensweg erhalten hat, ist im Ordner. So konkret über das Lebensende meines Vaters zu sprechen war sehr emotional für mich. Meine Mutter starb vor bald 19 Jahren, ich bin ein Einzelkind und das Familienmitglied, das meinem Vater am nächsten steht.

Die jetzt noch zusammen erlebte Zeit wird kostbarer. Niemand kann sagen, wie lange mein Vater noch leben wird, auch die Ärzte nicht. Aber der Tod ist durch die diagnostizierte Krankheit greifbarer. Wer meinen Vater nicht kennt, merkt ihm wohl auch nicht unbedingt etwas an. Ich merke mittlerweile durch sein Atmen, wenn der Wasserstand in der Lunge ein kritisches Mass erreicht hat. Mein Vater ist ganz klar und sehr stoisch. Sagt, ich müsse mich an den Gedanken gewöhnen, dass er eines Tages nicht mehr da sei, es könne auch schnell gehen. Das weiss ich alles. Eine 75-jährige Freundin von mir sagt, man müsse schon bei Menschen ab 80 damit rechnen, dass sie plötzlich krank werden oder sterben. Auch das weiss ich. Und trotzdem kann ich die Angst vor dem drohenden Verlust und allem, was vorher kommt, nicht einfach von mir schieben.

 


Rosmarie Schoop,
16.8.2015, 114. Jahrgang, Nr. 228.

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Standpunkte:

22.8.2015, 21:35 Uhr.

Michael Suter schrieb:

Authentisch und berührend geschrieben. Ich nehme an, dass Ihr Vater mit der Veröffentlichung dieser Geschichte einverstanden war. Die Geschichte mit dem Asbest ist irgendwie nicht so relevant. Am Ende sind wir alle «Opfer» des und dessen, was wir in unserem Leben durchmachen mussten. Es gibt so viele Zufälle, Unfälle und Krankheiten, die dass Lebensende beschleunigen können. Ihrem Vater, dass ihm ein zu grosses Leiden erspart bleibt. Ihnen die Kraft ihn auf diesem Weg zu begleiten und sich selbst nicht zu verlieren.


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