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«Wandzeitung» vom 15.5.2015:

EIN SATZ:

Walpurgisnacht.

Wer mit 20 nicht Sozialist ist, der hat kein Herz, wer es mit 40 noch ist, hat kein Hirn. GEORGES CLEMENCEAU

Es hatte doch alles so gut angefangen. Der ergraute Gewerkschafter hatte am Walpurgisabend seine Rede für den 1. Mai in Rekordzeit fertig gehabt, die Schere, die zwischen arm und reich klafft, mit markigen Worten angeprangert, soziale Sicherheit gefordert und auch noch etwas mehr fürs Portemonnaie. Nachdem er unter tosendem Applaus vom Rednerpult gestiegen wäre, hätte er Würste gebraten und unter Genossen einen unkritischen Tag verlebt. Gut, der Wetterbericht war schlecht. Aber das war er für den 1. Mai meist schon gewesen.

Bei der vorletzten Passage über die Ausbeuter und Banken war er während der Niederschrift eingeschlafen, sie war vielleicht etwas zu lang. Er war in einen süssen Traum vom gerechtesten aller Staaten, wo für alle die gleiche Milch und der gleiche Honig fliesst, gefallen und hatte nach dem Erwachen den fulminanten Schlussappell an die internationale Solidarität in einem Zug niedergeschrieben. Er hatte dabei nicht den Textbaustein vom letzten Jahr verwendet, sondern eine neue Formulierung erfunden, welche allerdings der alten glich wie eine Eiin der andern. Nach der Niederschrift hatte er sich einige Gläser Chianti aus der Toskana gegönnt und war erneut eingeschlafen.

Dann war er schweissgebadet erwacht. Was hatte er bloss geträumt? Angefangen hatte es wiederum mit dem besten und gerechtesten aller Staaten. Nur war er menschenleer. Die Genossinnen und Genossen waren offensichtlich alle in jenen Sektor abgehauen, wo die Schere klaffte. Er war allein an einem Rednerpult gestanden, und die Würste kohlten nachfragelos auf dem Grill dahin. Zudem schüttete es, was das Zeug hielt.

Ob ihn eine Hexe, die auf ihrem Besen daherritt, mit demselbigen gepiekst hatte? Der Gedanke war politisch unkorrekt: wo waren die Hexer, welche zumindest mit einem emanzipatorisch gleichwertigen Haushaltsinstrument ausgestattet sein mussten. Zudem hatte er es höchstselbst erreicht, dass die Besen aus dem öffentlichen Dienst verbannt und stattdessen alle – ob Hexen, Hexer oder keins von beiden – mit einer eleganten, surrenden Wischmaschine ausgestattet waren.

Es war kein Besenstich, es sass tiefer. Es kamen ihm Zweifel, ob er mehr Lohn auch für den faulen Kerl, der neben ihm das Minimum der Stunden absass, fordern sollte. Und mehr soziale Sicherheit für Leute, die perspektivlos im Café sassen und locker vier Franken aus der Sozialhilfe für eine Tasse bezahlten. Es überkam ihn die Lust, sie in den Wald zu jagen, um diesen zu fegen, wonach sie in seinen Augen soviel Kaffee in welchen Kaffeehäusern und zu welchem Preis auch immer sie zu sich hätten nehmen dürfen, wenn sie denn nicht zu müde waren.

Zweifelsohne war er krank, sehr krank. Er liess sich noch am Morgen des 1. Mai einen Termin bei einem befreundeten Arzt geben. Der meinte zwar: «Am Tag der Arbeit sollst du ruhn», hörte ihm aber zu. Er untersuchte ihn jedoch nicht, sondern sagte nur: «Welcome to the Club. Ich habe deine Krankheit schon seit Jahren. Wir werden älter. Behalt’s für dich. Komm, wir gehen Würste braten.»

 

 


Adrian Ramsauer,
15.5.2015, 114. Jahrgang, Nr. 135.

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