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Herausgeber: Guido Blumer & Roger Rutz.
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«Wandzeitung» vom 21.4.2016:

Schicksalhaft ist die ahornblättrige Platane meine grosse Freude wie unser krasser Schmerz:

Ein Rundholz beinflusst unser Leben.

Vor gut zwei Dezennien entdeckte ich während einer schlafarmen – wenn nicht gar schlaflosen – Nacht im heimischen Büchergestell ein von mir bisher unbeachtetes Druckwerk zum Thema Bäume oder edler ausgedrückt: über das Rundholz der Takelung, und ich stiess nach faszinierenden rund sechs Erkundungsstunden auf die ahornblättrige Platane. Das war ein grosser Schicksalsmoment für mich, denn diese Pflanze mit den bezaubernden unpaarig gefiederten, nicht regelmässig gebuchteten, eiförmigen und zugespitzten drei Einzelblättern entwickelte sich sowohl zu meinem Lieblings- als auch meinem Schicksalsbaum. Die sommergrün belaubte Wurzel-Stamm-Krone-Gehölzpflanze, die eine Höhe von bis zu 45 Metern erreichen kann und die Welt bis zu dreihundert Jahr lang veredelt, hat eine zauberhafte Aussrahlung und vermittelt Lebensfreude, kann aber auch brennende Schmerzen verursachen. Nach der Entdeckung dieser pflanzlichen Schönheit war ich in voller Unruhe, mehr noch: feurig, aufgeregt. Mein stetiger Gedanke während dieser nächtlichen Stunden war allein der, dass dieses pflanzliche wie abgasresitente Blatt dem abserbelnden publizistischen Blatt gleichnishaft neue Kraft in Hülle und Fülle und ein langes Leben vermitteln werde.

Absolut ermüdet und doch in aller Unruhe dachte ich vor dem bloss noch kurzen Tiefschlaf, dass ich am nächsten Morgen, das erste Platanenblatt vom Boden aufheben werde, das künftig der kleinen Zeitung als neues Logo dienen soll: Als Symbol einer überraschend vielfältigen Zeitung, die so zäh ist wie die Platane. So kam es, dass ich frühmorgens völlig übermüdet von der Technikumstrasse her im Schlenderschritt präszis bei der Graben-Allee unter zahlreichen Blättern das schönste Platanenblatt entdeckte und aufgeregt aufhob.

Nachdem die ehemalige «Arbeiterzeitung» in den Neunzigerjahren nicht mehr als reine Sozistimme plädieren konnte, weil Parteiblätter schlicht niemanden mehr interessierte, verschwanden das freisinnige «Winterthurer Tagblatt», die CVP-nahe «Hochwacht» und der SVP-affine «Weinländer» von der Bildfläche. Also musste das «Stadtblatt» her, mit der energiegeladenen Ausstrahlung des Blattes, als erste Gratis-Sonntagszeitung der Deutschschweiz und als letzte Chance im Markt. Mit ihren vielfältigen Schreibstilen, in unterschiedlichsten journalistischen Gefässen, die sich nicht auf das Lokalgeschehen beschränkte. Die Auflage verzehnfachte sich, bei einem doppelt so hohen Budget. Aber das Geld reichte dennoch nicht. Der botanische Traum blieb ein ein kurzer publizistischer Traum. So gab es dann immerhin während elf Jahren publizistische Vielfalt. Doch die schlafarme Nacht lohnte sich allemal, auch wenn sie zum Albtraum verkam.

Die ahornblättrige Platane ist indes auch ohne die Zeitung unsere ständige, also treue Begleitung. Sie produziert meines Wissens als einzige Pflanze während zwölf Monaten im Jahr aggressive Pollen. Und die gehen aber voll in die Augen. Und ja, schicksalhaft leiden mein Töchterchen wie ich, der brennenden und juckenden Augen wegen krass, trotz regelmässiger Behandlung mit Livostin-Tropfen, für meine Nachfahrin einmal täglich, für den Papa viermal. Nun lebt das «Stadtblatt» also wenigstens in unseren Augen weiter ...


Guido Blumer,
21.4.2016, 115. Jahrgang, Nr. 112.

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