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«Wandzeitung» vom 10.6.2016:

Meine Grossmama war eine begeisterte Leserin:

Die erste Seite.

Es gibt kaum ein schöneres Gefühl, als die erste Seite eines Buches zu lesen. Was erwartet mich? Wird der Autor einfühlsam wie immer sein? Oder wird die Autorin bis zum letzten Satz alle um die Nase führen? Wird das soeben angefangene Buch zu einem Lieblingsbuch werden? Fragen. Erwartungen. Wünsche. Seensucht. Ein Buch ist der ideale Zufluchtsort, wenn die Realität mal grau und langweilig erscheint. Im Buch findet sich mein Alter ego wieder. Im Buch bin ich die, die ich nicht bin, aber gerne wäre. Manchmal ist das Buch so furchterregend, dass es das schönste Gefühl ist, es zuzuschlagen und in die Realität zu flüchten. Bücher sind mein Leben.

Mit grosser Freude lese ich gerade das neuste Werk von Joël Dicker «Die Geschichte der Baltimores». Es erzählt die Geschichte der Goldmans und dem Erfolgsdruck des Protagonisten: Marcus Goldman. Marcus ist Joël und die Goldmans werden von einer Katastrophe heimgesucht. Welche? Ich weiss es noch nicht. Anmerkungen, kleine Andeutungen lassen erahnen in welche Richtung diese zielt. Die Liebe zu den Büchern wurde mir in die Wiege gelegt. Meine Eltern arbeiten beide im Verlagswesen. Meine Grossmama war eine begeisterte Leserin, die ihr Wissen mit uns Enkelkindern teilte. So fuhren wir an einem warmen Sonntag durch das Wallis und als wir Raron erreichten, rezitierte sie fehlerfrei etliche Gedichte von Rainer Maria Rilke. Kein Kaminfeuer wurde gemacht, ohne dass sie vorher Conrad Ferdinand Meyer und seine «Füsse im Feuer» zum Besten gab. Christian Morgenstern, Friedrich Schiller, Johan Wolfgang von Goethe, … ja sie alle gehörten dank Grossmama zu unserer Kindheit, Jugend und schliesslich Erwachsenleben. Doch Grossmama war gewiss keine hochnäsige Frau, die nur intellektuelle Werke für gut genug empfand. Ganz im Gegenteil. In der grossen Bibliothek reihten sich die Gesamtwerke von Bertolt Brecht neben denen von Agatha Christie und beide gehörten zu ihren Lieblingsautoren. Grossmama liebte alles, was eine spannende, einfühlsame, interessante, menschliche, aussergewöhnliche Geschichte erzählte. Grossmama hat mir die Liebe zu den Büchern weitergeben, und sie hat mir eine sehr wichtige Sache gelernt: Das frühzeitige Blättern zum Schluss des Buches lohnt sich nie. Und: Wenn ein Buch dich nach zwei Kapitel nicht packt, so ist es nicht lesenswert. Bisher hatte Grossmama Recht.

Ich reisse mich also zusammen und blättere nicht bis zum Schluss vom neuen Dicker Roman. Wobei blättern ist das falsche Verb. Seit einigen Jahren lese ich nur auf dem Kindle. Ui! Lange hatte ich mich auch dagegen gewehrt … ist ja kein richtiges Erlebnis, dachte ich. Die Magie geht doch verloren, sagte ich. Nun ja, das stimmt zum Teil. Doch der Kindle ist äusserst praktisch und für mich nicht mehr wegzudenken. Die Lieblingsautorinnen werden aber nach wie vor auf Papier gekauft. Denn eine liebevolle und handerlese Bibliothek bereitet mir Freude und tut gut. Auch das hat mich meine Grossmama gelernt.


Oriana Ziegler-Somarriba,
10.6.2016, 115. Jahrgang, Nr. 162.

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