Logo Wandzeitung
Herausgeber: Guido Blumer & Roger Rutz.
Archiv:   Blog:   Echo:   Home:   Kontakt:   Leitbild:   Partner:   Sponsoren:   Twitter

«Wandzeitung» vom 9.6.2016:

EIN SATZ:

Denken und denken lassen.

Nimm einen Rat an. Diesen: Nimm keinen Rat an. EDWARD DOUWES DEKKER, Kolonialbeamter und Schriftsteller.

Im Frühling spriesst nicht nur die Knospe, nein auch die Beratungsindustrie grünt und blüht. Im Mass, wie die Beratungsdichte zunimmt, müsste es eigentlich auch die Beratungsresistenz.

Doch nein, wir hängen den Experten an ihren berufenen Mündern. Und keine Situation, die nicht von Fachleuten analysiert wird. Sei es, dass die kleine, beinahe grosse Stadt per Expertenmeinung zur Hauptstadt der halben Nordostschweiz berufen wird. Oder Schuldige an einem Skandal, der durchs Land wellt, bestimmt werden sollen. Die Ratschläge schlagen wie Brandungswellen über uns zusammen und beflügeln die Erkenntnisresistenz.

Das hat den Vorteil, dass wir denken lassen können. Und uns Wichtigerem widmen: der Natur, dem Garten, dem Reisen, dem Nichtstun oder der kollektiven Verblödung.

Aber niemals unseren alltäglichen Verpflichtungen. Schliesslich zeigt kein Werbespot, wie wir buckeln, mühen und malochen. Nein, das Pepsodent-Grinsen überstrahlt Freizeit, Abenteuer, Spass und allerhöchstens die lockere Aufgabenentledigung nebenbei. Entschuldigung, ein bisschen abgeschweift. Flugs und stracks wieder zurück auf die Zielgerade. Mein Berater war halt offline, und ohne ihn kriegt auch der Kolumnist die Kurve nicht.

Nicht alle Rat(rundum)schläge machen denkfaul. Als die ersten Sexpertinnen, ausschliesslich Frauen – der Dr. Sommer von der Bravo war die Ausnahme, welche die Regel bestätigt –, die «Liebe Martha» und zuerst die ebenfalls in der Schweiz aufgewachsene US-Amerikanerin «Dr. Ruth» über Genitalkrümmungen und Gefühlsverwirrungen schrieben, brachten die Artikel einen Emanzipationsgewinn mit sich. Die Menschen befreiten sich erstmals per Beratung von den Zwängen und Begrenzungen der sexualfeindlichen Vorfahren. Sie begannen zu denken.

Allerdings findet die Gesellschaft im Fall erfolgreicher Emanzipation stets neue Zwänge und Begrenzungen. Denn Sexualität will kontrolliert sein, wo kämen wir sonst hin. Die heutigen Anforderungen an den Diskurs zwischen mehr oder weniger paarungswilligen Personen im Spannungsfeld zwischen nein und jein sind dermassen anspruchsvoll, dass sie nicht selten im Gerichtssaal enden. Wo übrigens bald auch nur noch Experten und keine Laien mehr Existenzen zerstören dürfen.

Früher war unreflektiert Unkeuschheit Trumpf, heute besteht ebenso unreflektiert Anspruch auf Selbstverwirklichung. Dr. Ruth erklärte unlängst in einem Interview, dass sie auf der Strasse sofort erkenne, wenn jemand sexuell befriedigt sei oder nicht. Es ging daraufhin ein Werweissen und gegenseitiges Beobachten los, denn niemand will das Soll nicht erfüllen.

Was die Krönung ihres Rats ausmacht: Dr. Ruth sagt uns nicht, wie wir den Umstand feststellen. Dr. Ruth hält dicht. Und zwingt uns so nachzudenken.

Nur mir verriet sie das Erkennungsmerkmal. Und ich gebe es nicht weiter. Aber ich beobachte euch alle.

 


Adrian Ramsauer,
9.6.2016, 115. Jahrgang, Nr. 161.

Artikel als PDF downloaden

Zu diesem Artikel wurde noch kein Standpunkt abgegeben.

 

Veröffentlichen Sie als erste Person Ihren

Standpunkt*:

Name:

*Wir freuen uns sehr über Ihre Gedanken zum Text des Tages, bitten Sie jedoch, keine Personen zu verunglimpfen und deren Haltung mit Respekt zu begegnen. Danke schön. Verstösse gegen unser Leitbild werden indes nicht verbreitet.

 

Winterthurs kleinste Zeitung der Schweiz.