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«Wandzeitung» vom 8.3.2016:

Wir brauchen einander:

Schönheit des Prinzips Sündenbock.

Es war unser erster Abend in China. Wir gingen in den Stadtpark, in dem die 40- bis 80-Jährigen ihre allabendliche Gymnastik betrieben. Eine Art öffentlicher Turnverein. Mehrere verschiedene Gruppen trafen sich da zum Abendsport. Musik drang aus Lautsprechern. Manche Gruppen übten Paartanz, andere eine Mischung aus Aerobic, Tai Ji und Reigen. Ein beschwingter Anblick, der uns in China noch oft erfreuen sollte. Man kann bei diesen Gruppen einfach mitmachen, ohne Anmeldung oder Bezahlung. Unsere Gastgeberin Holly zeigte auf eine ältere Frau, die mitturnte. Das sei ihre Mutter. Wir winkten der Frau zu. Später erzählte uns Holly, dass ihre Mutter gesagt habe, sie solle vorsichtig sein und uns nicht vertrauen. Man wisse nie, mit wem man es zu tun habe. Das fanden wir recht lustig, weil wir als Schweizer selten oder besser gesagt nie, mit solchen Vorurteilen konfrontiert werden. Egal wohin man als weisser Europäer kommt, überall wird man als willkommener Gast behandelt. Hier in China ist es im Prinzip nicht anders, doch die älteren Menschen seien misstrauisch gegenüber Fremden. Das gelte nicht nur für Ausländer, erklärte uns Holly. Da dachte ich, dass Misstrauen eigentlich etwas zutiefst Menschliches ist, genauso wie Vertrauen zum Menschsein gehört. Wenn jemand Angst vor mir hat oder mir nicht vertraut, dann empfinde ich das nicht als Beleidigung, denn es hat ja nichts mit mir zu tun. Dieser Mensch kennt mich ja nicht. Misstrauen zwischen Menschen ist ein natürlicher Zustand, der sich je nachdem sehr schnell auflösen kann.

Bei uns ist es mittlerweile nicht mehr salonfähig sein Unbehagen gegenüber Fremden zu äussern, weil man dann gleich als fremdenfeindlich gilt. Vielleicht ist das unser wahres Problem? Müssen wir den unverkrampften Umgang mit unserem Misstrauen neu erlernen? Sind wir Opfer einer überspannten politischen Korrektheit? Vielleicht. Vielleicht sollten wir wieder mehr zu unseren Schwächen stehen. Dazu gehört auch die Tendenz, die Schuld jeweils beim anderen zu suchen. Wenn wir den Ausländern die Schuld geben können für einen bestimmten Missstand, dann ist das zwar unfair und unaufrichtig, doch es ist auch befreiend. Wenn Ihnen folgende Situation bekannt vorkommt, wissen Sie wovon ich rede.

Etwas läuft schief. Sie verpassen den Zug oder lassen ein wichtiges Essen anbrennen. Sie werden sich selbst verfluchen oder den pünktlichen Zug oder den neuen Backofen. Noch besser ist es, wenn Sie einer anderen Person die Schuld geben können. Der langsamen Verkäuferin, die Sie aufgehalten hat oder Ihrem Partner, der nicht auf die Uhr geschaut hat. «Warum hast du das Unglück nicht verhindert?», können Sie ihn vorwurfsvoll fragen. Oder die subtilere Variante: Mit ihrem Missmut über die Situation implizieren Sie stillschweigend eine gewisse Mitschuld Ihres Partners. Schon bald werden Sie sich besser fühlen. Wir Menschen brauchen einander. Denn alleine sind wir immer selbst schuld. Und das ist ziemlich unbefriedigend.


Anita Blumer,
8.3.2016, 115. Jahrgang, Nr. 68.

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