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«Wandzeitung» vom 22.7.2016:

Der Wutbürger Europas ist männlich. Und alt:

Ich suche begeistert die Alpenwelt.

Ich habe das Wandern entdeckt. Während ich als Kind beim Wandern grundsätzlich immer nur herumgemault habe, extra ein paar Meter hinter allen anderen gegangen bin und immer wieder «Mama! Warte!» gebrüllt habe, besuche ich nun, 20 Jahre später, nicht nur freiwillig, sondern begeistert die Schweizer Alpenwelt. Vielleicht liegt es daran, dass niemand alle drei bis vier Minuten «Anita, nid blöterle!» sagt und mich weiterschiebt. Aber ich habe einen ganz anderen, viel schlimmeren Verdacht: Es liegt am Alter.

Noch ganz andere Fakten lassen mich zu diesem Schluss kommen: Als ich letztens in der Kosmetikabteilung stand, habe ich mich gefragt, ob ich eine Crème für «reife Haut» kaufen soll, nur so rein prophylaktisch; die Freundinnen meiner Halbschwester sagen mir «Grüezi!»; auf Fotos sind mir meine Lachfalten aufgefallen; nach 20 Minuten im Schneidersitz schlafen mir beide Füsse ein und ich habe etwas Mühe, schnell aufzustehen; meine Pflanzen überleben seit mehreren Monaten und sind zur Verschönerung in meiner Wohnung und nicht, weil man sie rauchen kann; in meinem Kühlschrank ist (meistens) mehr Essen als Bier; als mir letztens jemand mitteilte, er habe seine Steuererklärung noch nicht eingereicht, setzte ich einen strengen Blick auf und meinte so was wie: «Ja dänn aber subito, susch wirsch im Fall iigschätzt!»; wenn ich Alkohol kaufe, fragt der Kassierer nicht mehr nach einem Ausweis; beim Schauen von Serien identifiziere ich mich mit den Elternfiguren; und das wohl eindeutigste Zeichen dafür, dass man langsam Richtung Erwachsenendasein geht:

Mich nerven Jugendliche. Aber dafür können sie gar nicht allzu viel, weil ihr pubertäres Hirn vor lauter Hormonausschüttung und Veränderung eben nicht allzu viel Sinnvolles produziert – hormonell gesehen sind Teenager eigentlich ständig auf Drogen. Dieser Gedanke relativiert meine auf die Jugend bezogene Misanthropie etwas. Nicht ganz so nachvollziehbar verhält es sich mit anderen Gruppen von Menschen, die ich oft nervig finde, zum Beispiel mit männlichen Ü60ern, die in Grossbritannien die Jugend überstimmen und so den britischen Austritt aus der EU ermöglichen, oder die in Österreich dafür sorgen, dass der FPÖ-Rechtspopulist vielleicht doch noch an die Macht kommen wird. Oder die in der Schweiz bestimmen, dass Minarette verboten, Kleindealer ausgeschafft und internationale Verträge gebrochen werden können. Die Wahl- und Abstimmungsstatistiken zeigen: Der Wutbürger Europas ist männlich. Und alt. Und er sieht sich selbst nicht als Europäer. Er ist Franzose, Deutscher, Italiener, Schweizer – Patriot.

Wenn ich über die Demokratie der alten Männer Europas und über die Entscheidungen nachdenke, die durch sie in den letzten Jahren hervorgegangen sind, so muss ich mich dem Journalisten Sergej Lochthofen und seinem Vorschlag, das Wahlrecht auch nach oben mit einer Altersgrenze zu versehen, fundamental anschliessen.

Und ich hoffe sehr, dass ich selbst in ein paar Jahrzehnten nicht von der «Alters-Tollwut» erfasst und noch in der Lage sein werde, mich nicht ausschliesslich aus Angst- und Hassgefühlen an der Politik zu beteiligen.


Anita Hofer,
22.7.2016, 115. Jahrgang, Nr. 204.

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Standpunkte:

23.7.2016, 11:19 Uhr.

Herbert Danzer schrieb:

Bei der Stichwahl zur österreichischen Bundespräsidentenwahl erzielte Norbert Hofer bei den Männern in der Altersgruppe über 60 sein schlechtestes Ergebnis (55 %); von den Männern bis 29 wählten ihn 58 %, von denen zwischen 30 und 59 sogar 63 %. (http://derstandard.at/2000037398941/Wer-wen-gewaehlt-hat)
Es ist also ziemlich unfair, den alten männlichen Wählern die Schuld daran zuzuschreiben, dass Hofer eine neuerliche Chance erhält. Die Schuld liegt vielmehr bei den schlampigen Wahlbehörden, der anfechtungsfreudigen FPÖ und der nicht von allen Verfassungsrechtlern begrüssten Entscheidung der österreichischen Verfassungsrichter.


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