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«Wandzeitung» vom 22.6.2016:

Sinn und Hoffnung:

Schwimmbad-Kirche.

Ich stehe in den riesigen Kellergewölben der lutherischen Petrikirche an der wichtigsten Geschäftsstrasse in Sankt Petersburg. In den Fundamenten ist der Bassinrand noch klar sichtbar und die gemauerte Wanne des Schwimmbades, als das die riesige Kirche in sowjetischer Zeit umfunktioniert war: Ein Hallenbad mit Sprungturm im Chor und seitlichen Zuschauer-Tribünen. Die im 19. Jahrhundert eingeweihte Kirche mit 3000 Sitzplätzen wurde 1937, in der Zeit des schlimmsten Stalinterrors geschlossen, die Pastoren verhaftet und die berühmte Walckerorgel – ein Schwester-Instrument steht in der Winterthurer Stadtkirche! – beschlagnahmt. Die innere Empörung über diesen gewaltsamen Umnutzungsakt habe ich schon in Moskau überwinden müssen, wo eine der grössten russisch-orthodoxen Kathedralen zu diesem Zweck geschleift und für mein Gefühl profanisiert wurde. Doch der Gedanke der Umnutzungen ist uns aus der Schweiz ja nicht mehr fremd, nur eben aus ganz anderen Gründen. Bei uns werden Umnutzungen vorgenommen, weil die Gottesdienstbesucher fehlen, im Sozialismus war Religion verboten und Kirchenräume wurden nach Belieben enteignet. Aber nach 40 Jahren des spirituellen Kahlschlages, nach dem Zerfall der Sowjetunion, sind die Gotteshäuser wieder aufgebaut worden. Das Wasser in Sankt Petri wurde wieder abgelassen und der Boden neu eingezogen. Natürlich sind die wieder neu belebten Kirchen, vor allem die unzähligen der russisch orthodoxen Kirche, seit der Perestroika nicht einfach voll besetzt, und die Säkularisierung ist auch an der russischen Gesellschaft nicht vorbeigegangen, aber die Kräfte des Wiederaufbaues sind spürbar und eindrücklich.

Unter der Petrikirche aber entstand eine Gedenkstätte der besonderen Art. Die Beckenreste in den Fundamenten sind als Symbol der Entfremdung eines Kirchengebäudes bestehen geblieben, ein sichtbares Zeichen für die Unterdrückung des Glaubens in der atheistischen Sowjetzeit. Doch das «Gedenken» ist nicht das letzte Wort, sondern ein amerikanischer Künstler, Matt Lamb, hat diese Wände, Konsolen und Säulen gestaltet mit einer Botschaft für die ganze Welt: Frieden, Freiheit, Liebe, Hoffnung. So entstand nach der Umnutzung nicht nur Restauration, sondern Neues. Für die russische Bevölkerung gehört heute das Wiederinstandstellen, das neue Vergolden all der Kuppeln und architektonischen Denkmäler, die Kriegserinnerung als ideologische Grundlage für die national-patriotische Ausrichtung ihres Regimes zu den identitätsstiftenden Zeichen. Das ist die neue «Wahrheit». Was setzen wir in der Schweiz für Zeichen?

Nachdenklich kehrte ich zurück nach Winterthur, wo in der frei gewordenen Kirche Rosenberg kürzlich heiss debattiert wurde über den Inhalt und die Botschaft einer Umnutzung. Sollen es Kulturschaffende sein, die gesellschaftlich relevante Impulse geben mit Ausstellungen und Aufführungen? Oder braucht es konkreten Sinn, begründet durch einen Bedarf in der Zusammenlebens-Gemeinschaft Stadt? Momentan sind Flüchtlingsunterkünfte dort eingebaut worden. Für unsere Stadt ein wichtiges Zeichen. Wenigstens macht das Sinn und schafft Hoffnung.

 

 


Maja Ingold,
22.6.2016, 115. Jahrgang, Nr. 174.

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