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«Wandzeitung» vom 4.7.2014:

WM-Fieber:

Eine neue Volkskrankheit?

Der Fettnapf steht bereit. Auf die Gefahr hin, dass sich die – auch rotgrüne – Volksseele empört, dass ich auf grundlegendes Unverständnis stosse, dass sich der oder die Lesende allenfalls in seinem Lustempfinden missverstanden fühlt, äussere ich meine Gedanken zu König Fussball.

Viertelfinal heute Abend. Final am 13. Juli. Klar werde ich reinschauen, die damit verbrachte Zeit hake ich als Allgemeinbildung ab. Und immerhin möchte ich zum Schluss hin auf dem Laufenden sein, denn meine Schüler fiebern mit. Je nach Herkunft für ihr Land.

Letzthin, an einem Samstagmorgen: «Langsam habe ich genug Fähnchen gesehen», sinniert mein Tischnachbar vor dem Cappuccino. «Es stört mich einfach, wie der Nationalstolz zum Nationalismus umschlägt. Wie Horden und Massen von Menschen hocken und johlen, wie die Spieler auf dem Feld fast schon als Götter um ein Tor angefleht werden. Wie die Augen verschlossen werden vor erschossenen Kindern und niedergerissenen Favelas, um den gewünschten Prestigestadien Platz zu machen. Die ganze korrupte Bande mit einem oberkorrupten Chef an der Spitze finde ich widerlich», fährt mein Tischnachbar fort, «steht aber immerhin in einer gewissen Analogie zum finanzpolitischen Gebaren der Schweiz», schliesst er sein Fazit.

Tut das gut! Gerne und entspannt habe ich zugehört, geschmunzelt, meinen Blick dabei geniesserisch über die Obergasse schweifen lassen. Solche Gedanken zu äussern in diesen Tagen, braucht Mut, denn schnell, gaaanz schnell wird Mann oder Frau damit zur Aussenseiterin, Spassverderberin, Miesmacherin – gaaanz schnell wird Mann oder Frau mundtot gemacht, sollte sie es wagen, sich kritisch zu äussern! Doch nicht jetzt! Hier! Heute! Während dieses Monats überhaupt! Es sind nicht nur die Rahmenbedingungen, die mich die WM mit kritischen Gefühlen erleben lassen. Nicht nur, dass mich die Sklavenmentalität im Spitzenfussball stört, wenn Menschen gekauft und verkauft werden.

Vor ein paar Tagen, als ich vor dem Haus sass und über den Tag sinnierte, stand es auf einmal klar vor meinem inneren Auge: Es ist dieser abgrundtiefe, unwidersprochene, allumfassende und direktiv geforderte und gelebte Gehorsam, der mich stört. Die Rollen sind klar verteilt: Der Trainer stellt seine Spieler auf. Bestimmt unangefochten. Jeder gehorcht. Der Schiri pfeift das Spiel, sein Pfiff ist Gesetz, unwiderrufbar. Jeder gehorcht, murrend manchmal, aber er gehorcht, aufs Wort.

Rollenspezifische Könige befehlen die Weltmeisterschaft, jeder gehorcht, unterstellt sich dem Willen und dem Urteil der Könige. Die Horde setzt sich vor die Flimmerkiste, kommentiert und johlt – dieses Gehorsamkeitsprinzip unterstützend, als ob sie es selber als Gesellschaftsprinzip so wollten – so herbeiriefen. Auch bei den Rotgrünen.

Das ist es, was mir das ganz grosse Unwohlsein bereitet. Die Sorge vor einem schleichenden Revival einer absolutistischen Gesellschaftshaltung.


Marlies Bänziger,
4.7.2014, 113. Jahrgang, Nr. 29.

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Standpunkte:

5.7.2014, 14:28 Uhr.

Sophia Würmli schrieb:

Bei jedem Spiel gibt es Regeln und die Trainer haben eigentlich die Funktion, das Potential aus den Spielern herauszuholen.
Schlecht wird mir eher, wenn ich bedenke, was die Fussballer verdienen und was es Brasilien gekostet hat. Als ob sie keine anderen Probleme haben. Doch, haben sie! Die meisten Brasileiros konnten sich kein Ticket kaufen und wohnen nicht im Villenviertel von Rio de Janeiro. Was die Korruption betrifft, haben wir das auch, nur bei uns nennt man das Filz und ist noch stolz darauf. In einer Woche ist es vorbei und die Fans werden dann auch wieder mit ihrem Alltag konfrontiert werden. In dem Sinne möge Costa Rica oder sonst ein Aussenseiter Weltmeister werden ...


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