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«Wandzeitung» vom 6.5.2016:

Jetzt ist sie weg:

Ich vermisse Frau M.

Die liebe, elegante, witzige und grossmütige Frau M. ist gestorben, fast hundertjährig, in ihrem heiss geliebten Bett, ganz ruhig und für sich alleine in einer Nacht im April. Hinübergeschlafen, wo auch immer drüben ist.

Ihren Geburtstag konnten wir noch feiern mit Freunden und Verwandten, den Ostermarkt im Hertihus in Bülach besuchen und selbsthergestelltes «chrömlä» und den beginnenden Frühling mit seiner Blütenpracht bei Spaziergängen bewundern. Über den Kran auf der Baustelle vor ihrem Küchenfenster lachen: «Der hängt einfach so rum – ich muss immer so lachen.» Und den vorbeifliegenden Vögeln nachgesehen, Schoggi genossen mit einem Kafi dazu, manchmal auch zwei. Hin und wieder die Köpfe zärtlich aneinander gehalten. Bilder in Zeitschriften kommentieren: zum Glattrasierten: «Der weiss gar nicht wieviel Schnauz er haben soll.» Manchmal chifflä: «Es geht Sie gar nichts an, ob ich zur Bettruh den Fingerring ausziehe.» Dann wieder versöhnlich: «Sie sind so herzig.» Aber auch grosszügig: «Sie müssen die beiden Flecken nicht wegputzen, die sind doch ganz elegant.» Und dann wieder herzhaft gelacht. Der Nichte noch eine Postkarte mit dem eigenen Bild drauf geschickt, eine Herzgirlande ans Fenster gehängt, das Lammfell als Schutz vor Wundsitzen im Rollstuhl noch zur Reinigung gebracht. Täglich das Gehen trainiert, währenddessen auf mich geschimpft. Mit Appetit gegessen und genascht. Im Café Cappucchino einen Cupcake mit Fremden geteilt, einer anderen beim Vorbeigehen «Dumme Kuh» nachgerufen. Fussmassagen genossen, Manicure verteufelt, geduscht und fein gerochen, sich schön angezogen und meine farbigen afrikanischen Kleider goutiert. Ihren Finger in meine zerissenen Jeans oder meinen Löchli-Pullover gesteckt. Bescheiden für sich nichts gefordert und anderen ihres selbstlos angeboten: «Bitte nehmen Sie diesen Kaffee oder lieber das Ankenbrot?» Sich für Liebesbezeugungen bedankt: «Danke!» Sich an Handlungen des Vortages erinnert: «Der hat sooo klitze kleine Schnittchen geschnitten, richtig herzig – seine Frau wird Freude haben.» Halluziniert: «Haben Sie die tollen farbigen Punkte am Himmel auch gesehen?» Sich an meine Ermahnungen erinnert: «Jemand sagt mir manchmal, ich dürfe nicht hauen.» Sich Kinder angedichtet: «Meine drei Jungs haben heute wieder wild gespielt.» Anderen Kinder angedichtet: «Wie geht es Ihren drei Jungs?» Vom Elternhaus erzählt und von der Kindheit in Winterthur, von Sprüngen aus dem 1. Stockwerk in den Schnee. Nach einem Glässchen Wein verlangt, immer die Medikamente eingenommen, sich selber im Spiegel die Zunge rausgestreckt. Besuche verwünscht und nicht mehr aus Höflichkeit gelogen: «Sie sehen gar nicht gut aus.» Manchmal still geweint, aber immer wieder auch gelacht.

Aus meiner Sicht – mit Demenz – ein bis zuletzt rundum lebenswertes Leben gelebt, an dem ich teilhaben und mich gefühlsmässig auffüllen konnte. So manches Mal fuhr ich nach meinem Einsatz bei Frau M. so vor Glück strotzend mit dem Velo nach Hause, dass mich Leute ansprachen, sie hätten mich lachend vorbeifahren sehen. Das war einzig die Spiegelung der wundervollen Frau M. auf meinem Gesicht.

 

 


Lilian Setenou,
6.5.2016, 115. Jahrgang, Nr. 127.

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Standpunkte:

13.5.2016, 18:03 Uhr.

Momo Appenzeller schrieb:

So zauberhaft! Liebevoller kann ein Nachruf nicht sein!


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