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«Wandzeitung» vom 30.6.2016:

Reise in die Vergangenheit:

Das Tessin rückt weiter weg.

Tessiner können zur Arbeit nach Zürich pendeln. Zürcher können ihren Feierabend auf Locarnos Piazza verbringen. Wird das Versprechen der Mobilitätsplaner erfüllt? Wir starten unsere erste Tessinreise diesen Frühling mit alljährlich wiedererwachenden Sehnsüchten: Alpen überwinden, Füsse in den Lago halten, Grotto und Polenta. Wir planen drei Tage auf der Strada Alta, danach zwei in Locarno. Auf der Strada Alta ist trotz idealsten Wanderverhältnissen kaum jemand anzutreffen. Viele Quartiere sind «bis auf weiteres» verlassen. Nach mehrstündigen Märschen stossen wir selten bis nie auf ein Lädeli. Deren Angebot ist eher wie Anfang 20., als 21. Jahrhundert. Wirtinnen klagen über ausbleibende Strada-Alta-Wanderer. Wir sehen sie von oben: Sie wälzen sich in Blech gehüllt nach Locarno, Lugano, Luino. In Biasca sind vorbeirauschende Intercities rammelvoll, Hotels in den L-Oasen ausgebucht. Wir drehen um, an den Bodensee. Der ist ähnlich warm, aber kaum einer hält Füsse ins Wasser, sie scheinen alle am Lago di …

Für eine zweite Tessinreise nehmen wir das Mountainbike mit. Unser Plan ist das bergige Dreieck zwischen Bellinzona, Como und Lugano zu erkunden. Um die Fahrräder innerhalb vernünftiger Zeit an den Ausgangspunkt zu bringen, müssen wir um 4 Uhr aufstehen. Die SBB kommen tatsächlich schneller auf die Alpensüdseite, aber, bestätigt der Kondukteur: «Sie wollen Reisende, die in Schubladen passen.» Wer in die näher gerückte Sonnenstube einen grossen Koffer oder gar ein Fahrrad mitführen will, der muss Strapazen in Kauf nehmen, mehr als früher. Wer abseits von Locarnos Piazza spazieren möchte, sollte Rucksack und Fahrrad dabei haben. Beides hilft, die reduzierte Versorgung in den Seitentälern zu kompensieren. Ähnlich wie auf der Strada Alta wird der Trip zur Reise in die Vergangenheit. Viele Berghütten sind geschlossen, unsere Bikes zum Glück robust genug, uns heil über überwucherte Pfade zu tragen.

Als wir in Lugano die Heimreise antreten, können wir zwei Plätze für die Bikes reservieren. Die SBB wollen uns in weniger als drei Stunden heimbringen. Fast hätten wir uns mit der Bahn versöhnt. «Der Zug kann auf unbestimmte Zeit nicht weiterfahren», heisst es in Erstfeld. «Jeden Sonntag dasselbe! Seit sie den neuen Tunnel gebaut haben, harzt es.» Heute ist es ein Vogelschwarm, der den Strom kappte. Unser IC-Neigezug fährt und steht und fährt. Klar ist die Durchsage erst, als wir mit 70 Minuten Verspätung am HB Zürich einfahren. Das Fazit des Tessiners: «Wenn der Basistunnel offen ist, mache ich Schluss mit Zürich.» Er werde wieder für weniger Lohn in Lugano arbeiten und im günstigeren Italien wohnen.

So gehen mit der Verkürzung der Reisezeiten also Wunschträume in Erfüllung, aber nicht jene, welche uns bei den Ja’s zu mehr Tunnel versprochen wurden: Tessiner werden nicht näher nach Zürich rücken, weil das System mit den vier Röhren technisch überfordert ist, schon bevor alle offen sind. Manche Zürcher werden Piazzas und Lagos meiden, weil sie am Bodensee dasselbe ohne Stau bekommen. Immerhin wird der Alpenschutz verstärkt, begrenzter als versprochen, weil sich nur noch hartgesottene Naturtouristen auf die Strada Alta verirren.

 


Thomas Möckli,
30.6.2016, 115. Jahrgang, Nr. 182.

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