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«Wandzeitung» vom 16.11.2014:

EIN SATZ:

Waagenheber.

Die einzige Methode, gesund zu bleiben, besteht darin, zu essen, was man nicht mag, zu trinken, was man verabscheut, und zu tun, was man lieber nicht täte. MARK TWAIN

Der amerikanische Autor liegt mit seinem Satz so falsch wie mit jenem über das Glockengeläut in unserem Lande, das sehr lange daure, damit es auch bis ins Ohr jedes Sünders dringe. Das ist allerhöchstens in Bern so. Oder bei Hörgerätekundschaft mit Tinnitus. Es geht nämlich niemals darum, was man isst, sondern darum wieviel. Bzw. dass jede auch noch so geringe Menge eines jedes Leckerschmeckers zu viel ist. Und das Dilemma darin besteht, dass man entweder zu viel trägt und dafür nicht so lange, oder dann weniger aber länger. Im Endeffekt kommt’s zwar mathematisch auf dasselbe raus. Die gefühlte Unbill ist dabei jedoch um Klassen stärker. Das weniger und länger ist dermassen ätzend, dass es einem um vieles weniger und länger vorkommt als in Wirklichkeit. In streng Dantescher Tradition – lasciate ogni speranza voi che dietate – ist jeder Versuch, durch geringere Zufuhr von Energie die weicheren Formen in Richtung Linie zu beeinflussen, zum Scheitern verurteilt. Was man weniger zuführt, kompensiert der Körper flugs und stracks woanders.

Und so können wir sicher sein, dass der morgendliche Weg auf die Waage zum Bussgang nach Canossa wird. Selbst wenn man sich mit Leibesübungen und Enthaltsamkeit am Vortag kasteit hat, kommt eine invisible hand und katapultiert die Anzeige nach oben. Nicht dass sie sich, macht man das Gegenteil und völlert, säuft und schlemmt, nach unten bewegen würde. Der ganze Vorgang entzieht sich jeder Gesetzmässigkeit ausser dem stetigen Streben in die Richtung, die man nicht will.

Es handelt sich auch nicht um eine invisible hand, sondern um unsichtbare Lebewesen. Jene der Spezies Waagenheber nämlich. Das sind kleine, heimtückische Viecher, die in unseren Waagen nisten und sich allein von unserem Unglück und unserer Verzweiflung nähren. Sobald sich Mensch mit unbegründeter Hoffnung – und welche wäre grösser – des Morgens auf eine dieser Messeinrichtungen, die sich in jedem Badezimmer tummeln, begibt, treten die Waagenheber in Aktion, treiben die Anzeige nach oben und einen in wilde Verzweiflung. Man kann den Vorgang auch zu anderer Zeit als am Morgen versuchen, beispielsweise nachts: Es hilft nichts, die Tierchen sind sowohl tag- als auch nachtaktiv.

Die Waagenheber (phantasiae adriani) wurde Ende des letzten Jahrtausends zwanzig Jahre nach der Steinlaus (petrophaga lorioti) vom Zoologen Vicco von Bülow entdeckt. Die ganze Population sollte ursprünglich dem Casino- und dem Sommertheater geschenkt werden, um deren Produktionen schwergewichtiger auszugestalten. Wie wir wissen, sind die Waagenheber dort nie angelangt. Sie bevölkern stattdessen unser Zuhause und zerrütten unsere Seelen.


Adrian Ramsauer,
16.11.2014, 113. Jahrgang, Nr. 164.

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17.11.2014, 10:38 Uhr.

Herbert Danzer schrieb:

Ein köstlicher Text!


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